Samstag, 27. Juli, 2024

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Radikale Ehrlichkeit – ein sinnvolles Konzept?

Wir Frauen sind in der Regel emotionaler als Männer. Das absolut okay, nur führt das immer wieder zu Herausforderungen, die gemeistert werden wollen. Ich meine damit nicht, dass Frauen oder Männer sich verbiegen sollten.

Eine mögliche Lösung ist eine respektvolle wertschätzende Kommunikation. Einige Paare praktizieren deshalb die radikale Ehrlichkeit. Da stellt sich die Frage, ob das sinnvoll ist oder nicht?

Am Ende findet jede Form der Beziehung selbst heraus, was funktioniert oder eben nicht. Ich selbst bin ein großer Fan von Offenheit und Ehrlichkeit, doch hier ist Feingefühl angesagt. Es gibt ein paar Aspekte, die wir beachten sollten, wenn es darum geht, radikal ehrlich zu sein. Vor einiger Zeit habe ich ein Interview eines Paares gesehen, das radikal ehrlich zueinander war. Der Vorteil liegt eindeutig darin, dass beide Seiten wissen, woran sie sind.

Allerdings können wir nicht davon ausgehen, dass unser Gegenüber gerade in dem Moment, wo uns gerade danach ist, die Kapazitäten für unsere Offenheit hat. Wenn unser Gesprächspartner vielleicht selbst in dem Augenblick sehr emotional ist oder den Kopf einfach voll hat mit anderen Dingen, kann das zu einem unnötigen ziellosen Streit führen, der sogenannte Nachwehen hat.

Sich zu streiten ist per se nicht verkehrt; ganz im Gegenteil. Es ist sogar sinnvoll eine partnerschaftliche Streitkultur aufzubauen. Jedoch braucht das Vertrauen und am besten haben wir uns schon im Vorfeld dazu Richtlinien bzw. Commitments dazu festgelegt.

Zum Beispiel indem wir vorher abgemacht haben, dass wir uns nach dem emotionalen Dampf ablassen auch sachlich und ruhig darüber unterhalten und jeder den anderen aussprechen lässt. Was auch hervorragend funktioniert:

  1. Jeder hat 5 Minuten komplett freie Redezeit – manchmal sehr herausfordernd.
  2. Nachdem eine Seite gesprochen hat, bekommt der zuhörende Part ein paar Minuten für sich, um das Gesagte sacken zu lassen.
  3. Anschließend tauschen sich beide reflektiert und fair weiter darüber aus und finden gemeinsam eine Lösung, mit der alle einverstanden und zufrieden sind, um sich in der Zukunft besser zu verstehen.

So können wir auch mal über die Stränge schlagen und daran wachsen; vor allem zusammenzuwachsen. Doch sich immer wieder im emotional überlasteten Zustand zu streiten, macht wenig Sinn und entfernt uns meistens voneinander. Auch streiten will gelernt sein.

Die Frage ist immer, was will ich mit meinem Verhalten erreichen und bringt das unsere Partnerschaft auch langfristig weiter?

Wenn ich meinem Partner eine Szene mache, weil er meiner Meinung nach etwas getan oder eben nicht getan hat, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er das Geforderte nicht aus Verständnis tut, sondern um den emotionalen Stress zu vermeiden, den ich ihm bereitet habe.

Da ist es doch sinnvoller und fairer, wenn ich sachlich erkläre, was ich möchte, warum ich es möchte und was es mit mir macht, wenn das nicht geschieht. Dabei ist eine achtsame Wortwahl sehr wichtig. Viele verwenden Sätze wie „ nie machst du…“, „ ich hab dir schon 100 Mal gesagt, dass…“, …… Alles eindeutig vorwurfsvoll.

Leider macht das dem Partner keine guten Gefühle, sondern ganz im Gegenteil.

Viel zielführender, weil wertschätzender, sind Formulierungen wie „ich wünsche mir dass du, weil…“, „ kannst du ….. für mich tun, denn dadurch fühle ich mich……“. Ja, da kann das Ego schon mal kurz Hallo sagen, doch worum geht es?

Geht es darum, sich Anerkennung zu erkämpfen, um Macht oder sich selbst durchzusetzen? Oder wollen wir eine respektvolle wertschätzende Partnerschaft? Eine glückliche funktionierende Beziehung brauch Investment – von beiden Seiten.

Dazu gehört es einerseits, dem anderen Raum zu geben und andererseits, auch klar zu kommunizieren, wo die eigenen Grenzen liegen. Jeder von uns hat seine Werte und No Go`s und das ist auch völlig legitim. Nur sollten wir auch so erwachsen sein und unserem Partner die Chance geben, uns zu verstehen. Und für mein Verständnis sind Vorwürfe da absolut kontraproduktiv.

In dem Interview mit dem Pärchen, dass radikale Ehrlichkeit praktiziert, passierte eine Situation, die mich dieses Beziehungsmodell überdenken lies.

Die beiden sagten sich nonstop, was sie dachten und fühlten. Im Gespräch sagte der Mann, dass er das Doppelkinn seiner Partnerin nicht mochte. Die Mimik der Frau sprach Bände und es war nicht zu übersehen, dass sie verletzt war. Doch sie überspielte es und tat so, als ob es okay für sie gewesen wäre.

Meiner Meinung nach war das von ihrer Seite nicht radikal ehrlich. Und ich frage mich, ob solche Äußerungen einer Beziehung tatsächlich gut tun?

Auf jeden Fall entstehen dadurch keine guten Gefühle und möglicherweise werden auf diese Weise sogar Hemmungen gefördert. Anderseits weiß sie nun, wie er denkt und kann entscheiden, ob sie das annimmt oder nicht. Für mein Dafürhalten ist es verletzend, vor allem, da sie nun weiß, dass sie ihrem Partner nicht 100% gefällt. Insgesamt ist dieses Beziehungsmodell fraglich.

Ich bin froh, eine für mich gut funktionierende, gesunde Form der Kommunikation innerhalb einer Partnerschaft gefunden zu haben und lerne jeden Tag dazu. Dabei gibt es Werte, die absolut wichtig sind und zusammenschweißen, Ehrlichkeit und Offenheit – allerdings im passenden Kontext.

Daher prüfe ich erstmal, was mich stört und warum. Anschließend lasse ich – meistens – etwas Zeit vergehen und passe einen Moment für ein Gespräch ab, bei dem ich das Gefühl habe, dass es mich und meinen Partner weiterbringt. Dabei steht bei mir an erster Stelle, dass wir einen gemeinsamen Nenner finden und wir beide zufrieden mit der Lösung sind. Nur so funktioniert Wachsen und Zusammenwachsen, in respektvoller wertschätzender Cokreation*.

Mein Fazit: wertschätzende und respektvolle Ehrlichkeit verbindet mehr als radikale Ehrlichkeit. In diesem Sinne: finden Sie heraus, was für Sie am besten funktioniert.

Ihre Nicole Szopinski

* Cocreation, statt einschränkender Abhängigkeit, Freiraum und Wachstum innerhalb einer verbindlichen Beziehung.

Copyrights: Katharina Kraus / Seelenportraits pexels.com

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