Hand aufs Herz: Wann haben Sie das letzte Mal privat länger telefoniert?
Ich selbst vor einer Woche, indem ich meine Gesprächspartnerin quasi dazu nötigte. Kurzentschlossen wählte ich ihre Nummer, und versehentlich nahm sie ab.
Diese Verlegenheit, dieser Moment, wenn man merkt, der andere ist unangenehm berührt, sie waren beinahe körperlich spürbar. Als hätte ich die Arme auf der Toilette erwischt.
Scheinbar verletzt man mittlerweile ein Tabu, wenn man es wagt, jemanden während seiner sauer verdienten Freizeit zu stören, weil diese anscheinend das Äquivalent einer geschützten Tierart geworden ist und mittels „Work-Life-Balance“ verwaltet wird. Mit App natürlich. Freie Zeit teilt man nicht mit jedem – da ist man sehr selektiv geworden. Immerhin geht alles auch schriftlich, was der landläufigen Meinung zufolge weniger aufwändig und wesentlich unproblematischer ist.
Ja – es ist tatsächlich zum „Aufwand“ mutiert – dieses Einlassen auf ein paar Worte am Telefon, sei es nun Festnetz oder mobil. Weil man vielleicht mit den meisten Leuten gar nicht mehr reden möchte? Weil man im direkten Gespräch dessen Verlauf nicht beeinflussen kann? Es ist schwieriger, zu sagen: „Sorry, ich muss jetzt weg, habe Stress“, als das ins Display des Smartphones zu hacken. Stimmen sind so verdammt verräterisch.
Ich bin übrigens schmerzfrei bezüglich dieser „peinlichen“ Momente, denn ich weigere mich standhaft, mich der neuen Zeit gänzlich anzupassen und sämtliche Unterhaltungen nur noch über irgendeinen Messenger zu führen. Was gerade modern ist, hat mich noch nie interessiert, das galt nicht nur seinerzeit für neonfarbene Leggings mit Zebrastreifen oder überdimensionale Schulterpolster, sondern ist bis heute Teil meiner Lebenseinstellung und betrifft auch Zwänge in jeder Form.
Wenn eine verstümmelte Kommunikationform von Millionen Menschen innerhalb weniger Jahre als neue Gewohnheit angenommen und praktiziert wird und ich gar keine andere Wahl habe, als mitzumachen, betrachte ich das als Zwang. Was „man“ tut, tangiert mich nicht. Die beste Methode, mir einen Film oder ein Buch schon im Vorneherein nachhaltig zu vermiesen ist der im Befehlston formulierte Satz:
„Den/das MUSST du einfach sehen/lesen.“ Das gilt auch für Musikstücke und Sushi-Varianten, bei denen der Fisch noch zappelt. Ich mag ganz einfach nicht „müssen“. Basta.
„Normalerweise vereinbart man einen Termin über Whats App, und dann erst telefoniert man“, erklärte mir neulich ein Münchener Geschäftsmann. Ich hatte ihn kurzentschlossen angerufen, denn er antwortet selten auf Nachrichten schneller als nach drei Tagen. Schon wieder dieses „man“. Nö. Danke. Man muss sich das einfach mal vorstellen, dieses Umständliche, Komplizierte, dem wir uns freiwillig hingeben. Anstatt zum Smartphone zu greifen und eine Nummer zu wählen, tippen wir erst mal umständlich eine Message mit dem Inhalt „Wann wäre es denn in Ordnung?“ Dass ich das bei einem gestressten Aufsichtsratsvorsitzenden tun muss, sehe ich ein. Aber ganz ehrlich: Wer von uns ist bitte so beschäftigt, dass er nicht mal mehr ein paar persönliche Worte wechseln kann? Es muss ja keine Stunde sein, oft genügen fünf Minuten.
Natürlich habe ich Whats-App installiert. An manche Personen komme ich ja schon gar nicht mehr anders heran. Warum aber bitte muss ich ein genau definiertes Zeitfenster vereinbaren, um mit einer Person zu reden? Was ist passiert?
Das erste Smartphone (von Apple) wurde 2007 auf den Markt gebracht, das sind gerade mal 12 Jahre. Innerhalb dieses Zeitraumes sind nach und nach kommunikative Praktiken erodiert und an den Rändern ausgefranst. Auf einmal ist es modern, so wenig wie möglich zu reden. Ich fasse zusammen: Telefonate nur noch nach Voranmeldung. Es sei denn, sie finden im Kino, wenn gerade der Film beginnt (letzte Woche erlebt), im Speiselokal am Nachbartisch, im ICE in voller Lautstärke (ständig) oder an anderen Orten mit möglichst viel Publikum statt. Das muss ich verstehen – der Typ hatte mit Sicherheit einen Termin über Whats-App vereinbart…und er ist wichtig.
Holt mich hier raus. Bitte.
„Ich habe im Moment keine Zeit“, höre ich häufig, wenn es darum geht, mal zu telefonieren. „Puh, so viel Stress, da müssen wir eine Uhrzeit finden, wo es nicht ganz so eng ist“, erklärte mir neulich eine Bekannte im Facebook-Messenger. Sie ist Hausfrau, mit drei erwachsenen Kindern, die alle im Ausland leben, und vertreibt sich die Zeit hauptsächlich in Dessous-Läden oder auf den Websites von Online-Shops. Selbstverständlich kann das dermaßen in Stress ausarten, dass man keine Zeit mehr für andere Menschen hat. Verstehe ich, Sabine. Und ich rufe dich auch nicht mehr an. Versprochen.
Es ist wie eine um sich greifende Epidemie, dieses langsame Sterben einer essentiellen Kommunikationsform. Nachdem sich jetzt sogar meine verehrte Frau Mutter mit ihren 83 Jahren ein Smartphone angeschafft hat, um ihre überlästigen Enkel auf einfachem Wege abwimmeln zu können (Meine Mutter ist immer unterwegs, da nerven die Gören nur, wenn sie fragen: „Oma, kann ich zum Essen kommen?“), werde ich wohl meine eigene Verweigerungshaltung nochmals überdenken müssen.
Sollte ich meine Mama tatsächlich mal ans Telefon bekommen, dann benimmt sie sich übrigens, als müsste sie innerhalb der nächsten dreißig Minuten in Saudi-Arabien eine brennende Ölquelle löschen und sofort in ihren Supergirl-Dress hüpfen, um loszufliegen.
Meine Freundin Ella verweigert sich ebenfalls. 48 Jahre alt, Mutter von drei entzückenden, mittlerweile erwachsenen Töchtern, liebevolle Ehefrau, hangelt sie sich atemlos durch ihr Leben, das aus zwei Jobs, einem zwei Quadratkilometer großen Garten und einem Haus, das von der Geräumigkeit her einer Reithalle ähnelt, besteht. Ella hat nie Zeit, und wenn sie welche hat, dann erträgt sie kein anderes Geräusch als das Rascheln einer Chips-Tüte oder das Öffnen der Kühlschranktür, um die Schokolade mit Praline-Füllung rauszuholen. Sie hat sich gegen den ganzen Stress, von dem sie umgeben ist, und durch den sie sich quält, einen Panzer aus mindestens 60 überflüssigen Kilos angefuttert, von dem sie glaubt, dass er sie beschützt, den sie aber hasst. Weswegen sie sich übrigens noch mehr von der Außenwelt separiert. Und noch mehr isst. Immer, wenn sie sich besonders beschissen fühlt, macht sie alle Schotten dicht. Analog und digital.
Sie sehen – es gibt viele Gründe für sozialen Rückzug.
Man geht nur noch ran, wenn man muss. Im Messenger kann ich nämlich sein, wie ich gesehen werden möchte. Aber bei einem Anruf hört meine Freundin vielleicht, dass ich gerade ins Sofakissen geschnäuzt habe, weil ich mich so elendiglich fühle.
Seit zwei Jahren versuche ich, einen Termin zu vereinbaren, an dem Ella und ich uns zum Grillen treffen, mal gemütlich zusammensitzen können und ein bisschen plaudern können.
„Toll, machen wir!“, ruft sie immer enthusiastisch, wenn ich sie wirklich mal an den Apparat bekomme, was höchstens einmal innerhalb von drei Monaten vorkommt. „Wir schreiben und klären das über Whats App.“ Das geht so seit mittlerweile zwei Jahren.
Gelegentlich kommt dann eine Nachricht von ihr: „Ich kann bald nicht mehr und bin total fertig mit den Jobs und dem Haus und dem Kochen und so.“
Ich: „Du Arme. Bussi-Emoji.“ Manchmal verschicke ich auch zwei Emojis.
Sie müssen wissen: Ich tippe nicht allzu gern auf dem Handy-Display herum, vor allem, wenn die Sonne draufscheint. Mehr Anteilnahme würde sie bekommen, wenn sie bei mir anriefe, aber das ist ihr wiederum zu intim. Als würde ich mit jedem Wort, das ich sage, einen geheimen Raum betreten, der nur ihr gehört. Ist das wirklich alles, was die Menschen heutzutage noch wollen? Bussis, Herzchen, Röschen und winzige bunte Blumensträuße? Bei Geburtstagen zusätzlich vielleicht noch eine stilisierte Torte oder ein aus dem Internet heruntergeladenes Bildchen mit einer Kerze.
Ihr könnt mich bald alle, ehrlich. Aber es sind so viele mittlerweile, so schrecklich viele.
„Ich habe keine Zeit für Gespräche“ wird heute tatsächlich als glaubhafte Ausrede gesellschaftlich akzeptiert. Das behaupten Schüler, Rentner, Hausfrauen und genervte Angestellte gleichermaßen. Sie benehmen sich, als wäre Telefonieren etwas sehr Privates, beinahe wie Sex oder Stuhlgang. Schließlich geht jedes Wort von ihrer nicht vorhandenen Zeit ab. Es klingt immer so, als hätte ich allein 24 Stunden täglich zur Verfügung, und sie nur 14. Vielleicht bin ich ein Vampir. Oder ein Relikt.
„Wir haben 20 Minuten“, erklärte mir Beatrix, eine Journalistin im Ruhestand, letztes Jahr am Telefon. „Dann müssen wir aufhören. Ich möchte nicht zu lange reden. Das strengt mich zu sehr an.“ Wenigstens ist sie konsequent.
Ich kenne wirklich viele Leute. Die meisten behaupten, sie könnten sehr schlecht „Nein“ sagen. Dabei sind sie wahre Meister im Abgrenzen von der unerwünschten Außenwelt. Und die „Außenwelt“, das bin leider ich. Um mich macht sich aber keiner Gedanken, die ich mich zurückgewiesen und gekränkt fühle. Es ist ja die neue Zeit. Und da muss ich durch.
Kürzlich hatte mein Neffe schlimmen Liebeskummer, denn er war von seiner Freundin nach fünf Jahren abserviert worden. Sagenhafte drei Stunden schrieben wir auf Whats App hin und her, bis ich vorschlug: „Können wir telefonieren, das Getippe geht mir allmählich auf den Keks?“
Schwupp, war er offline und meldete sich nicht mehr. Für einen kurzen Moment schämte ich mich, denn ich kam mir vor, als hätte ich von ihm etwas Unzumutbares verlangt, oder noch schlimmer: etwas Altmodisches, etwas das nur alte Leute tun. Es wirkt schon, das Digitale. Die schöne neue Welt. Bei jedem. Bei allen. Tippen auf einem winzigen Display ist zum Ersatz für wirklichen echten Trost geworden. Man kritzelt ja auch keine Notizen mehr auf die Rückseite von gebrauchten Briefumschlägen, sondern macht Screen-Shots mit dem Handy oder diktiert sie einer App, die heutzutage ein zerknittertes Stück Altpapier und einen Kühlschrankmagneten an der Pinnwand ersetzt.
Kann man aus meinen Worten herauslesen, dass es mich allmählich anödet? Dieses sinnlose Verschicken von bunten Bildchen mit geklauten Sinnsprüchen zum Geburtstag, Weihnachten oder Silvester zum Beispiel. Mein Smartphone-Speicher quillt regelmäßig an den Feiertagen über von redundanten Zeichentrickfilmchen mit Schweinchen, Häschen, Kätzchen und anderen Lebewesen.
Ich kann einfach nicht fassen, wie viele Leute glauben, dass ein schlecht gemachter Cartoon mit Untertiteln den Ansprüchen von jemandem genügt, der mit handgeschriebenen Briefen auf echtem Papier aufgewachsen ist. Ja. Ich bin alt. Zumindest so alt, dass ich es geschmacklos finde, wenn ich zum Geburtstag von Leuten, denen ich persönlich einen liebevoll zusammengestellten Fresskorb vorbeigebracht habe, nur eine SMS bekomme, die bestenfalls das Bild eines Kuchens enthält. Ich werde mir künftig diese Arbeit auch nicht mehr machen. Gut für mein Budget.
Jedes Jahr vor Heiligabend wird es besonders schlimm.
„Wish You a merry Christmas.“ Dazu ein paar stilisierte Notenblätter oder kitschige Engelchen, gerne animiert, und schon hat man sich wieder Porto gespart. Auch das mühselige Schreiben mit einem Kuli entfällt. Ja, du mich auch. Wo ist eigentlich „Weihnachten“ geblieben? Oder Deutsch? War es zu mühsam, wenigstens ein einziges knallbuntes Christbaum-Foto mit Untertiteln in unserer Sprache herauszusuchen? Ich antworte nie auf solche Video-Clips, ich sehe sie mir nicht mal an und schreibe auch nicht „Danke“. Dafür ist MIR zum Beispiel meine Lebenszeit zu schade. Was ich daran erkennen kann, ist, dass sich keiner mehr Mühe macht.
„Effizienz“ heißt das Zauberwort. Einsparung von überflüssigen Bewegungen, Gedanken und Handgriffen. Wir rationalisieren uns zu Tode.
Bis letztes Jahr habe ich alle meine Weihnachtskarten persönlich geschrieben. Über den Inhalt jeder einzelnen habe ich nachgedacht und die Zeilen individuell formuliert. Ich habe die Dinger eingetütet, zugeklebt, adressiert (noch mehr Arbeit) und frankiert (ja, gekostet hat es auch etwas). Resonanz? Keine. Die übliche Schwemme an Engelsbildchen und animierten Christbäumen am 24.12. Keine Sekunde früher. Unsere Konversation, ja die gesamte Kommunikation, wird rudimentär. Alles geschieht nur noch bruchstückhaft. Damit werden auch die Möglichkeiten, uns auszudrücken, geschmälert.
Ein Satz im Messenger kann sehr schnell missverstanden werden, denn Ironie muss mittlerweile als solche gekennzeichnet werden. Wissen Sie, warum? Weil man es an der Stimme hört, wenn jemand sarkastisch ist. Entfällt die Tonlage, oder ein Lachen vielleicht, schleichen sich Irrtümer ein, und irgendwer bekommt es garantiert in den falschen Hals. Ist mein Whats-App-Gesprächspartner (welch eine Worthülse), dann erst mal so richtig verstimmt, erfordert es Geschick und Geduld, diese Unstimmigkeiten wieder zu bereinigen. Da dürfen Sie dann eine Menge tippen.
Stimmbänder haben schon ein paar Vorteile. Ehrliches Bedauern, das man aus einer Entschuldigung heraushören kann zum Beispiel.
Die Kommunikation verschwindet im Alltag. Sie schrumpft stückweise in sich zusammen wie ein Ballon, der allmählich die Luft verliert, immer kleiner und unansehnlicher wird. Und wer aufs Telefonieren angewiesen ist, wer zum Beispiel kein Smartphone besitzt, geschweige denn einen Messenger, hat in Zeiten, in denen sogar jeder kleine Kirchenchor über Whats-App vernetzt ist, schlechte Karten. Der ist unmodern. Ein Ewiggestriger. Hinter seiner Zeit zurück. „Waaaas? Du hast kein Whats App? Mann, bist du altmodisch.“
Ganz ehrlich: Das allein ist schon ein Grund für mich, mein eigenes Verhalten diesbezüglich zu überdenken, denn es gefällt mir nicht, in welche Richtung sich das entwickelt.
Sozialer Rückzug ist eines der Anzeichen für eine Depression, lese ich immer wieder in einschlägigen Büchern. Wir alle haben diese ominöse, nicht messbare Tabuzone um uns herum, die je nach wissenschaftlicher Studie zwischen 30 Zentimeter bis zu eineinhalb Metern in unserem Radius umfasst und zum Teil sogar mit Instrumenten messbar ist. Kommt uns jemand zu nahe und überschreitet diese unsichtbare Tabuzone, dann fühlen wir uns unwohl.
Mit unserer Art der Verweigerung persönlicher Kommunikation, mit dem Ablehnen von Telefongesprächen oder echtem Kontakt zum Beispiel, dehnen wir diese Tabuzone mittlerweile ins Unendliche aus. Sie können auch Ihren Kumpel in Thailand blockieren, damit der Sie nicht mehr über Whats-App kostenfrei anrufen kann. Ach was, Sie können die ganze Welt blockieren. Wie praktisch.
Ist das nicht merkwürdig? Wir haben wesentlich mehr Möglichkeiten zur Kommunikation als je zuvor und nutzen immer weniger davon. Irgendetwas bleibt auf der Strecke, und ich befürchte, es ist die Menschlichkeit. Ein Bekannter von mir hat vor zwei Jahren tatsächlich meiner Freundin zum Tod ihres Mannes eine SMS mit dem Inhalt: „Herzliches Beileid“ geschickt. Mehr nicht.
Finden Sie das gut? Ich nicht. Und das gebe ich offen zu.
Wir sind einsamer als früher, vielleicht, weil wir uns bedrängt fühlen von dieser Erreichbarkeit rund um die Uhr. Jeder kann uns zu jeder Zeit anmailen, anschreiben, anrufen. Sich mittlerweile unsichtbar zu machen, ein paar Stunden auszuklinken aus dem alltäglichen Wahnsinn, erfordert ziemlichen Aufwand, denn einfach das Telefon auszustecken wie früher funktioniert nicht mehr.
Das war einmal. Und man muss sich peinlichen Fragen stellen.
„Hast du mich etwa blockiert?“ „Ich habe genau gesehen, dass du vorhin noch online warst. Wieso antwortest du nicht?“ „Du hast doch bei Facebook was gepostet um 21:20 Uhr. Aber auf meine SMS von 21:15 schreibst du nicht zurück.“ Überwachbar sind wir geworden. Erreichbar und kontrollierbar. Von allen und jedem. Und darum versuchen wir, etwas von dem freien Raum, von dem ehemals so beruhigenden weißen Rauschen, zurückzubekommen, indem wir uns verweigern und Termine vergeben. Wir machen dicht und schaffen es doch nicht, alle Löcher zu stopfen, durch die irgendwelche Nachrichten, gute oder schlechte, kriechen. Dabei wollen wir doch gar nicht mehr alles wissen. Es würde uns schon reichen, denn auch in unserem Arbeitsleben hat sich alles verdichtet.
Es ist das Atemlose, dieses Schnelle, das Immer-auf-dem-Sprung-sein-Müssen der Neuzeit, von dem wir spüren, dass es sich wie Mehltau über unser ganzes Leben legt. Dem wir irgendwie entkommen möchten, denn alles, was ein Mensch tut, sollte auf freiwilliger Basis geschehen. Und wir merken allmählich, dass „freiwillig“ eine Option ist, die uns nicht zur Verfügung steht. Nicht mehr.
„Offline ist das neue Detox“, las ich neulich. Detox wird aus Bambus gewonnen und dient laut gängiger Doktrin der Entgiftung. Man kann es als Tee trinken, Kapseln einnehmen oder es sich in Pflasterform auf die Fußsohlen kleben. Offline zu sein – also quasi „entgiftet“ – ist mittlerweile ein Luxus, den sich immer mehr Leute zu leisten versuchen, weil sie spüren, dass sie keine Zeit mehr haben, sich auszuruhen von all dem, das um sie herum geschieht. Es wird einem sehr schwer gemacht, sich zu entgiften, denn alle anderen sind ja noch online.
Offline läuft man Gefahr, den Anschluss zu verlieren, nicht zu wissen, wann die nächste Chorprobe stattfindet oder den Geburtstagsgruß mit dem animierten Kätzchen auf einer gezeichneten Torte zu verpassen. Wir wollen doch immer dabei sein. Auch wenn es nur virtuell ist. Sonst bleiben wir allein.
Allmählich finde ich diese Aussicht verführerisch, wenn ich ganz ehrlich bin.
Meine Nachbarin gestand mir letzte Woche: „Ich habe überhaupt kein Handy und möchte auch keins, denn was ich sehe, wenn ich mich auf der Straße umschaue, macht mir eine Heidenangst. Auf irgendeine Sucht habe ich keine Lust.“
Betreten schaute ich zu Boden, denn ich bin eine Betroffene. Ich schneide Videos auf meinem Smartphone, verwalte meine Emails, mindestens 11.000 Musiktitel und 5000 Fotos, lese Nachrichten, pflege meine Accounts bei Facebook, Instagram und Twitter und tue mit dem Handy alles außer Kartoffelschälen. Nur telefonieren kann ich nicht damit, denn keiner will mehr angerufen werden. Es ist wirklich zum Schreien. Weil ich mir habe sagen lassen, dass Smartphones eigentlich genau dafür erfunden worden sind.
Als ich eine junge Frau war, besaß ich ein Telefon mit Wählscheibe und einem 10 Meter langen Kabel, das locker bis in die Badewanne reichte, in der ich stundenlang an einem Drink schlürfte und mit meinen Freunden plauderte. Dabei erfuhr ich dann, wer sich von wem getrennt hatte, wer mit wem fremdgegangen war, und wann die nächste Fete stattfinden sollte. Plante man selbst eine, dann rief man alle der Reihe nach an und lud sie ein.
Heutzutage ist es eine Zumutung, jemanden anzurufen, eine Verletzung der Privatsphäre. Wir schotten uns ab, bauen uns einen Kokon, eine Todeszone um uns herum, und verlassen uns darauf, dass diese von uns ignorierten Menschen trotzdem verfügbar sind, wenn wir sie denn mal brauchen sollten.
Das erinnert mich an eine Folge in der britischen Sitcom „The IT-Crowd“, wo einer der Hauptprotagonisten versehentlich seinen Papierkorb in Brand setzt und dann panisch der Feuerwehr eine Email schreibt. Auf die Idee, sein Telefon in die Hand zu nehmen, kommt er nicht.
Messenger sind wie sogenannte „tote Briefkästen“ in Spionagefilmen. Man legt was rein und hofft, dass es der andere Spion abholt und weiterleitet. „Ich hab deine Nachricht gar nicht gesehen“, heißt es dann, wenn die Antwort ausgeblieben ist. Beide wissen: Das ist gelogen, aber dann pfeffern wir einfach noch ein grinsendes Emoji mit dazu, und alles wirkt schon viel freundlicher.
Diese uralten Telefone mit Wählscheibe vermisse ich manchmal. Man musste (vor Einführung der Rufnummernübermittlung) rangehen, wenn man wissen wollte, wer einen anrief. Da der Mensch von Natur aus ein neugieriges Wesen ist, hob ich natürlich immer ab. Manchmal war es ein hartnäckiger Exfreund, manchmal meine Oma, die nur fragte, ob ich genügend gegessen hätte. Manchmal waren es Freunde, die mich zu einer Fete einluden. Und manchmal war es die Nachricht, dass jemand gestorben war.
Man konnte es sich nicht aussuchen.
Da sind wir heute aber spitzenmäßig besser dran, oder?
Mittlerweile wurde unsere Kommunikation outgesourct zu Facebook, Whats-App, Telegram, Viber, Signal, oder wie die Messenger und sozialen Netzwerke alle heißen. Man schreibt, was man eigentlich sagen sollte. Uns entgeht dadurch aber die Möglichkeit, anhand der Stimmlage die Befindlichkeit unseres Gesprächspartners wahrzunehmen, seine Gegenwart zu spüren, echtes Lachen zu hören, Trauer zu ahnen oder Schmerz. Schreiben kann ich nämlich viel, wenn der Tag lang ist.
Nichts ist einfacher, als einen ausgelassenen Eindruck zu erwecken in einer Messenger-Nachricht. Wo bei einem persönlichen Gespräch vielleicht die Alarmglocken läuten, wenn man deutlich hört, dass derjenige eventuell gerade geweint hat („Geht es dir wirklich gut, du klingst so merkwürdig?“), können wir im Messenger vor der Welt und uns selbst ein Bild der Stärke und Unangreifbarkeit aufrechterhalten, das real nicht existiert. Es ist sehr viel einfacher, in Kurznachrichten zu lügen als in einem echten Gespräch. Messenger schalten Instinkte aus. Als wären wir Gazellen in der Serengeti mit verätzten Nasenschleimhäuten, die den Löwen nicht mehr zu riechen imstande sind. Es ist nun einmal wesentlich einfacher, in schriftlicher Form zu lügen.
Sie glauben, ich klinge plakativ? Heute las ich in einer Onlinezeitung, dass eine Influencerin kürzlich ihr Badewasser in kleine Fläschchen abfüllte und ihren Followern für ein paar Dollar/Stück anbot. Innerhalb von drei Tagen war alles abverkauft. Mich wundert allmählich überhaupt nichts mehr. Aber von dieser Welt möchte ich mich nicht vereinnahmen lassen.
Früher klingelte es oft an meiner Tür. Jeder, der vorbeischaute, bekam etwas zu trinken angeboten. Dann setzte man sich auf die Couch und unterhielt sich. Stellen Sie sich vor: Man unterhielt sich. Auge in Auge. Es wurde gelacht, wir vereinbarten vielleicht ein Treffen oder schauten zusammen einen Film. Und das ohne Voranmeldung.
Heutzutage ist es nicht mehr möglich, mit mehr als drei Leuten am Tisch zu sitzen, weil immer irgendwer sein Smartphone zückt und sagt: „Hast du schon gesehen? Meine Katze hat neulich Handstand gemacht.“ Und dann fuchteln sie einem mit dem Telefon vor dem Gesicht herum. Alle tun das, in jeder Altersklasse. Bei den Älteren habe ich manchmal Glück, denn ohne ihre Lesebrille können sie nicht in ihrer Videosammlung herumwühlen. Wenigstens etwas.
Wir sind dabei, alles zu verlernen, das uns ausmacht, zu vergessen, was Kommunikation eigentlich bedeutet.
Warum hat eigentlich der einsame ältere Herr, der sechs Wochen tot in seiner Wohnung lag, ehe jemand bemerkt hat, dass er nicht mehr lebt, keine Whats-App-Nachricht an ein paar Leute geschickt mit dem Inhalt: „Ich bin einsam und brauche Hilfe“? Weil das keiner tut, dem es so richtig schlecht geht. Wir lassen uns gegenseitig allein, koppeln uns ab von allem, das eine solidarische Gesellschaft auszeichnet. Wir sind dabei, asozial in des Wortes reinster Bedeutung zu werden.
Und dabei versuchen wir doch eigentlich nur, uns zu schützen, auch wenn uns das selbst vielleicht gar nicht richtig bewusst ist.
Dieses Leben – es huscht immer schneller an uns vorbei, denn anstatt es uns leichter zu machen mit all diesen digitalen Vernetzungen und Verpflichtungen, treibt es uns vor sich her mit Bits und Bytes, mit blauen Häkchen und Anruflisten,, mit roten Signalzeichen, dass uns eine Nachricht erwartet, die wir endlich mal abrufen sollten. Und wehe, der Akku ist leer.
„Oh, der schon wieder da gehe ich jetzt nicht ran“, hörte ich schon mehr als einmal, wenn ich es geschafft hatte, meine Freundin zu einem Stadtbummel zu überreden. Dazu zieht sie ein entnervtes Gesicht.
Wann bitte sind Anrufe zu einer Art von Körperverletzung oder Zumutung geworden?
In jedem Psychologie-Buch können Sie nachlesen, dass sozialer Rückzug ein Schritt zur kompletten Vereinsamung und auch ein Zeichen für Depressionen sein kann. Die Verweigerung von persönlichen Gesprächen ist eine Art von Flucht in eine nicht mehr existierende Komfortzone, gleich, wie man es dreht und wendet.
Dabei kann Telefonieren viel praktischer sein als Chatten am Handy. Sie dürfen nämlich nebenher bügeln, das Katzenklo säubern, oder die Wanne putzen, denn mindestens eine Hand haben Sie ja frei.
Woher rührt diese wachsende Unlust, etwas durchaus Menschliches zu tun? Da haben wir in vielen Jahrhunderten endlich gelernt, uns anders als durch Grunzlaute zu verständigen, und dann hören wir wieder damit auf. Freiwillig.
„Ich bin total fertig und brauche meine Ruhe“, höre ich häufig. „Total fertig“ muss ich gelten lassen. Dieses Leben frisst uns allmählich auf. Immer schneller, immer weiter, immer höher. Bis zum Absturz. Sie werden sich wundern wie still es dann plötzlich um Sie herum wird. Dass Sie nicht einmal mehr Lust haben, jemanden anzusimsen. Dass jede eingehende Whats-App-Nachricht mit dem Inhalt „Hallo, wie geht es dir“, oberflächlich scheint. Weil nichts, wirklich gar nichts, eine Umarmung ersetzen kann, oder ein persönliches Gespräch. Wollen wir hoffen, dass Sie nie in diese Situation geraten.
Es gibt einfach zu viele Probleme, die nicht mittels traurig blickender Emojis gelöst werden können.
„Wir telefonieren mal wieder“, ist heute eine geläufige Floskel, die genauso viel Bedeutung hat wie der lapidar hingeworfene Satz: „Wir sollten mal wieder auf den Mount Everest klettern. In Stöckelschuhen.“
Im Klartext bedeutet es nämlich: „Wenn die Hölle zufriert“.
Was passiert mit uns? Wieso sind wir so stumm geworden?
Ich beobachte diese sozialen Rückzüge auf breiter Front seit etwa 2013. Vorher sind sie mir nicht in diesem signifikanten Ausmaß aufgefallen. Verhalten wir uns so, weil unsere Stimmen zu verräterisch sind? Weil sie durchklingen lassen, wie müde und fertig wir sind, wie satt wir das alles haben: das Rattenrennen um ein auskömmliches Gehalt, die bohrende stille Furcht, schon im nächsten Jahr vielleicht keinen Job mehr zu haben? In einer Kurznachricht können wir ja prima weiterhin behaupten, „Alles in Ordnung, und selbst?“ Setzen Sie einfach noch ein lachendes Emoji drauf, dann passt das schon.
Ich habe als junges Mädchen in der Schule noch Stenographie gelernt. Es handelt sich hierbei um die sogenannte „Kurzschrift“, eine aus einfachen Zeichen gebildete Schrift, die schneller als die herkömmliche „Langschrift“ geschrieben werden kann und es ermöglicht, in normalem Tempo gesprochene Sprache mitzuschreiben oder eigene Ideen schneller zu notieren.
Lange Jahre hockte auch ich mit meinem Block in der Hand vor irgendeinem zerstreuten Boss und nahm seine Diktate auf. Anschließend saß ich verzweifelt an meiner Schreibmaschine, später am PC, außerstande, mein eigenes Geschmier zu entziffern, denn ich hatte im Laufe der Jahre etliche eigene Kürzel erfunden, die nicht im Lehrbuch vorkamen.
Sowohl Steno als auch Sekretärinnen mit Blöcken und gespitztem Bleistift in der Hand sind seit dem Aufkommen von Diktiergeräten aus der Mode gekommen. Aber diese verflixte „Kurzschrift“ schleicht sich durchs Hintertürchen als digitale Variante wieder ein. Wenn alles immer weiter verkürzt und vereinfacht wird, verschwindet es irgendwann ganz.
So weit möchte ich es – nur bei mir persönlich – nicht kommen lassen. Also rufen Sie mich bitte an. Ich verspreche, ich gehe auch ran. Weil ich gerne mal wieder eine Stimme hören möchte. Und es sollte nicht die von Siri sein.
Herzlichst,
Ihre Barbara Edelmann!
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