Jeder Fünfte in Deutschland lebt allein“, las ich gestern in einer großen deutschen Zeitung. Sofort zuckten mir die Finger, ich wollte mich im Kommentarbereich an der Diskussion beteiligen.
„Aber nicht alle freiwillig“, wäre meine Antwort gewesen.
Jedoch bin ich nach einigen Erfahrungen mit Online-Foren aus Schaden klug geworden und las nur mit, denn das Kommentieren bei Facebook gleicht gelegentlich dem Versuch, mit verbundenen Augen ein Minenfeld zu durchqueren: Irgendeiner geht garantiert immer hoch.
„Jeder Fünfte“. Also zwanzig von hundert Menschen oder, auf die gesamte Einwohnerzahl der BRD bezogen, circa 16 Millionen Personen. 16 Millionen Wünsche, Träume, Lebenspläne, Hoffnungen, und entweder freie Entscheidung oder widrige Umstände, die jemanden dazu zwingen.
Mit Sicherheit ist der verwitwete Rentner dabei, der in seiner jetzt leeren Wohnung alten Zeiten nachtrauert und sich wünscht, er wäre wieder zu zweit. Die kürzlich geschiedene Arzthelferin, die sich ihr Leben noch vor 10 Jahren am Tag ihrer Hochzeit ganz anders vorgestellt hat. Der Azubi, der soeben eine neue Stelle angetreten hat in einer fremden Stadt und zum ersten Mal schockiert feststellt, dass sich die Tüte H-Milch nicht automatisch in den Kühlschrank transportiert. Oder der frischgebackene Student, dessen Lebensplan auf dem Macbook ordentlich abgespeichert eine kleine Familie mit Reihenhäuschen, zwei Kinder und einen SUV beinhaltet. 16 Millionen Leben, 16 Millionen Schicksale.
Aber gestern, im Kommentarbereich der Online-Zeitung las sich das ganz anders. Beste Sache überhaupt. Stressfreier Daseinszustand ohne nervige Lebenspartner oder Mitbewohner. Gelegentlich schüttelte ich den Kopf, musste aber dann schmunzeln, wenn ich mir die Profilbilder der jungen Leute anschaute, die von ihrem herrlichen Single-Dasein schwärmten, ungerupft vom Leben, patiniert mit übermütiger Unbefangenheit, was mich ein bisschen neidisch machte, das gebe ich zu. Denn die Unbefangenheit schwindet, wenn einen das Schicksal mal so richtig durchgerüttelt hat und das Leben in den nächsten Gang schaltet. Sobald man das erste Mal jemanden zur letzten Ruhe geleitet, sobald man ernsthaft erkrankt oder einer, den wir lieben, zerfließen unsere Vorstellungen und Glaubenssätze wie zu dünn geratener Kuchenteig. Die Youngster im Kommentarbereich allerdings schienen bisher mehr oder weniger Glück gehabt zu haben. Wie gesagt – ich war ein bisschen neidisch.
Die Verteilung der Meinungen pro/kontra Allein-Leben verhielt sich in etwa 90:10, sprich: Neun von zehn Kommentatoren schworen, dass nichts besser wäre, als allein zu wohnen.
Eine ungefähr 25jährige Frau schrieb: „Alles, was im Kühlschrank ist, gehört mir. Mir ganz allein.“ Das klingt erst mal witzig. Vielleicht kann sie aber einfach nur nicht teilen, weil sie es nie gelernt hat, und ist nicht kompromissfähig. Ich wäre gerne Mäuschen, wenn sie sich irgendwann zu einer Familiengründung entschließt. Mit Kindern bekommen Begriffe wie „mein“ und „dein“ nämlich ganz neue Bedeutungen.
Der nächste junge Mann behauptete, alles andere als allein zu leben sei ihm viel zu anstrengend. Er hätte einen stressigen Job, und „absolut keine Lust, sich nach Feierabend noch um eine Partnerin zu kümmern“. Offengestanden klang das, als vergleiche er die potenzielle Freundin mit einer Rassekatze oder einem Schäferhund, denen man abends eine Schale Trockenfutter hinstellen, das Kistchen säubern und mit ihnen regelmäßig nach draußen gehen muss. Vielleicht kommt ja auch Mutti regelmäßig bei ihm vorbei, befüllt den Kühlschrank und putzt das Klo. Lachen Sie nicht – ich kenne zwei dieser jungen Herren, bei denen das genauso abläuft. Diesen Zustand möchte man natürlich so lange wie möglich aufrechterhalten.
Der dritte schrieb: „Ich lebe nicht allein, ich habe Freunde und Bekannte.“ Beeindruckendes Statement, bis man sich beim Fallschirm-Springen, Freeclimben oder Surfen das Bein bricht und merkt, dass es gar nicht so leicht ist, mit einem Gipsbein und zwei Krücken mehrere Kästen Mineralwasser in den dritten Stock zu schleppen, weil die Freunde und Bekannten alle bei der Arbeit sind und keiner da ist, der einem hilft.
Einer meinte, allein zu sein sei das einzig Wahre, denn er könne nur dann „zocken, wann immer er wolle“. Stellen Sie sich bitte keinen bei dem Wort „Zocken“ keinen Mittvierziger beim Skat vor, sondern einen bleichen Jüngling an der Switch oder der Playstation, der salzsäulengleich mit dem Controller in der Hand zu eigenständiger Kommunikation nur mehr rudimentär fähig ist. Meist reicht es gerade mal für den Pizza-Service. Aber dafür gibt’s jetzt schon eine App.
„Ich bin nicht allein, denn ich habe Freunde und Bekannte.“ Klingt klasse, ganz ehrlich. Allerdings stelle ich fest, dass der Begriff „Freundschaft“ heutzutage inflationär verwendet wird. Weil ich ziemlich sicher bin, dass mir von meinen Facebook-Bekanntschaften im Falle einer schweren Grippe keiner Tomatensuppe oder Klopapier besorgen wird, während ich mich röchelnd in meinem Bett wälze.
Echte, lebendige Freunde, in 3D und Farbe sind selten. Nur weil mich Joschi neulich zu seiner Housewarming-Party eingeladen und beim Verabschieden gemeint hat: „Wir müssen mal einen zusammen saufen, Alter“, ist er nicht mein Freund – den könnte ich nämlich nachts um 1:00 Uhr anrufen, wenn ich mit dem Auto mitten in der Pampa stehe und der ADAC nicht erreichbar ist. Der schaut bei mir vorbei, wenn ich ihn anschreibe: „Bitte komm, mir geht es mies“, der nimmt mich ernst, kennt mich und mag mich auch ungeschminkt und pleite.
Wie viele von denen haben Sie?
Aber zurück zu dieser Debatte im Kommentarbereich über die Tatsache, dass jeder Fünfte in Deutschland allein lebt. Ein Gros der Leserschaft war definitiv noch keine 40 und verteidigte seinen Lifestyle vehement gegen alle vorsichtigen Fragen, „ob das denn wirklich immer so toll sei“. Einzig ein älterer Herr gestand verschämt, dass er seit sieben Jahren verwitwet sei und sich nun daran gewöhnt hätte. Es klang allerdings nicht begeistert.
Fassen wir zusammen: Alleinsein ist klasse. Ihr Klo gehört ihnen. Alles, was im Kühlschrank ist auch. Und gestört werden sie ebenfalls nicht, weder beim Zocken noch beim Binge-Watching (mittlerweile gängige Bezeichnung für Serien-Marathons) oder bei… ach, was weiß ich denn, eventuell bei Ihrer essenziellen Arbeit an einem neuen Wundermittel gegen Krebs oder Laufmaschen.
Also, alles gehört ihnen. Sie müssen „alles, das Ihnen allein gehört“, aber auch allein saubermachen, befüllen und mit einer Grippe und zittrigen Knien das Wasser für ihre Wärmflaschen erhitzen. Sie müssen allein zum Wertstoffhof, allein den Urlaub buchen, allein Ihren Vater im Krankenhaus besuchen, wenn er dann gestorben ist, allein weinen, sich allein darüber Gedanken machen, was in fünf Jahren sein mag oder in zehn, und im Supermarkt genau überlegen, ob Sie wirklich die Großpackung Nudeln brauchen. Gibt’s eben wieder ein Wurstbrot.
Freunde haben nämlich oft keine Zeit und was anderes vor, wenn man sie dringend bräuchte und unter Umständen dieselbe Lebenseinstellung wie man selbst…
Jemanden mit Hühnerbrühe und frischen Papiertaschentüchern zu bemuttern, der gerade mit Grippe im Bett vor sich hin dämmert, ist unbequem, macht Arbeit und ist gefährlich, denn man könnte sich eventuell anstecken.
Außerdem läuft die neue Serie bei Amazon, und man hat sich eben eine Pizza bei „Lieferando“ bestellt. „Tut mir leid, Hendrik-Thorben, äh, es geht grad nicht, muss gleich weg. Du kommst schon klar. Melde dich, wenn du wieder gesund bist, dann machen wir was zusammen, ok?“
Hendrik, ruf einfach deine Mutter an. Die ist ohnehin dein bester Freund. Aber das wirst du noch lernen.
Man hat manchmal das Gefühl, Freunde seien heutzutage nur noch eine Art Lifestyle-Accessoire, wie eine winzige strassbesetzte Handtasche oder ein glitzerndes Paar Sandaletten. Sehen klasse aus, sind aber nicht wirklich praktisch. Freundschaften können sich abnutzen, schneller als Kunstleder, das bei Gebrauch abzublättern beginnt, hässlicher als Baumwollstrick mit ausgebleichten Rändern am Bündchen nach der Wäsche. Man sollte sie nicht überstrapazieren. Denn Freunde haben alle ein eigenes Leben, und genau das vergessen wir gelegentlich.
Zwar vertrete ich nicht die Ansicht, dass man sich allein aus pragmatischen Gründen einen Mitbewohner oder Lebenspartner zulegen sollte, nur damit Hausarbeit und Einkommen geteilt werden können. Aber ich habe so eine leise Ahnung, dass einige der Kommentatoren in ihrem jugendlichen Überschwang überhaupt nicht damit rechnen, dass ihnen das sogenannte „Real Life“ vielleicht irgendwann einen Strich durch die Rechnung machen könnte. In Farbe, 3D und Stereo.
Im echten Leben geht es nämlich nicht zu wie in einer Sitcom (alle 20 Sekunden der vorgeschriebene Lacher), da kriegt man Zahnschmerzen oder Bauchweh, muss dringend in die Ambulanz wegen unklarer Oberbauch-Schmerzen, hat sich den Fuß verknackst und kommt nicht mal bis zum Bad, um sich ein Aspirin zu angeln, geschweige denn ins Bistro, wo heute die witzige Runde mit den schlagfertigen Dialogen ohne einen stattfindet. Im echten Leben passieren schlimme Dinge und wenn eine Freundschaft ein Schirm wäre, der uns vor dem Regen beschützt, dann lassen sich manche nicht mal aufklappen, sobald die ersten Tropfen fallen.
Ganz ehrlich, manchmal beneide ich die Jugend um ihre herrliche Unbefangenheit, mit der sie durchs Leben trudelt und sich sicher ist, ihnen würde nie etwas Übles zustoßen. Den Glauben, dass alles immer so weitergeht. Die absolute Sicherheit, dass schreckliche Dinge nur immer anderen passieren, die man sich dann bei YouTube reinzieht, um sich wohlig zu gruseln.
Es genügt aber ein einziger kleiner Unfall mit dem E-Roller, und man lernt schnell, dass die „Rückwärts“-Taste nur auf der Fernbedienung funktioniert um einen wieder in den unberührten gesunden Wunsch-Zustand zu versetzen. Es gibt keine App für die Schicksals-Verwaltung, höchstens einen fiesen Zufallsgenerator, der willkürlich Grausamkeiten auswirft, die unser bisheriges Leben innerhalb von Sekundenbruchteilen verändern. Immer wieder sehe ich Fotos von Autos, die von jungen Leuten gefahren und an einem Baum zerquetscht wurden. Rollstuhl, Krankenhaus, Reha, Job weg, das war’s.
Und DANN wird sich zeigen, wie viele Freunde man hat. Ein richtiger Augenöffner.
„Ich lebe allein und finde das super.“ Dann verstehe ich nicht, warum Online-Partnerbörsen einen seit Jahren andauernden Boom erleben und die „Hallo Partner“-Seite im örtlichen Käseblatt von beinahe verzweifelt klingenden Bekanntschaftsanzeigen überquillt.
Wie viele der eifrigen Hüter ihrer Single-Appartements tindern regelmäßig auf der Suche nach Mr. oder Mrs. Right? Wie erklärt es sich, dass Liebes-Schnulzen nie aus der Mode kommen, egal, wie bescheuert sie sind, dass am Ende jedes Films immer noch das Happy-End in Form einer weißen Hochzeit stehen muss? Mir scheint, als seien die meisten weiterhin klammheimlich verbissen und gelegentlich verbittert auf der Suche. Und solange sie suchen, behaupten sie, dass sie es gar nicht tun. So wird natürlich auch ein Schuh draus.
Wenn dann Mr. oder Mrs. Right auftauchen, wie geht’s weiter? Besucht ihr euch immer gegenseitig in euren Lofts mit vollgepackten Reisetaschen, in die irgendwann noch der hoffnungsvolle Nachwuchs passen sollte? Oder fängt man dann doch an, sein Lebensmodell zu überdenken? Wohin mit den ganzen selbstverwirklichenden, hedonistischen Einzelgängern?
Und ich rede jetzt nicht von den Leuten, die gezwungenermaßen allein leben, weil sie momentan metaphorisch gesehen „aus der Kurve geflogen“ sind, sondern von allen, die immer krähen, wie super sie es finden, dass sie nicht teilen, nicht kümmern, nicht nachgeben, keine Kompromisse anstreben wollen. Ich rede von denen, die behaupten, ihr Leben wäre super. Immer auf Hochglanz, immer irgendwo ein brennendes Teelicht auf dem frisch abgeschliffenen Vintage-Tisch vom Flohmarkt. Und zack – rein zu Instagram damit, weil alle sehen sollen, wie gut es mir geht.
Wenn ein großer Bekanntenkreis oder Freunde genügen („Ich lebe nicht allein, ich habe Freunde und Bekannte“), warum dann diese permanente Eigenwerbung in Form von Selfies mit Duckface und verführerischem Blick hinter halbgeschlossenen Lidern? Wenn dieser Lebensstil das Non plus Ultra ist, wenn alle wirklich so zufrieden sind, zocken können, wann immer sie wollen, fernsehen bis der Arzt kommt, warum suchen dann so viele? Ach, ich würde so gerne mal fragen. Aber ich bekäme vermutlich nur eine ausweichende Antwort.
Ich gestehe ganz ehrlich: Auch ich genieße Zeiten des Alleinseins. Da kann ich mich in der Trainingshose auf meiner Couch fläzen, mir acht Folgen meiner Lieblingsserie am Stück angucken, das schmutzige Geschirr auf der Spüle stehen lassen und hemmungslos mit meiner Freundin chatten, bis der Finger blutet. Ab und zu ist das so richtig schön.
Freiwillig allein zu sein ist etwas anderes, als es dauernd sein zu müssen. Wenn man erst mal ein gewisses Alter erreicht hat, dann fühlt es sich nicht mehr ganz so toll an. Als stünde man verloren auf einem riesengroßen menschenleeren Platz, schutzlos allem ausgeliefert, was das Schicksal uns zukommen lässt. Je älter man wird, um so geringer wird auch die Aussicht, dass es sich dabei um den edlen Ritter auf dem weißen Ross handelt, und man sollte besser täglich, statt mit einem Schimmel plus Ritter, mit einem führerlosen Müll-Laster rechnen, der einen plattwalzt. Irgendwann ist der Spaß vorbei. Auch das gehört dazu. Man nennt es „Erfahrung“.
Wenn jeder so zufrieden mit sich ist, warum gehören zum modernen, hippen „Allein-Leben“ Hipsterbärte, Ganzkörperrasuren, Ohrringe, Herren-Manikür-Sets, Fitness-Studios, Body-Öle mit Erdbeer-Aroma, Eiweiß-Nahrung für schnelleren Muskelaufbau, Brazilian-Waxing, Gelnägel, künstliche Wimpern und ständig neue Klamotten? Wofür all die Instagram-Accounts mit gephotoshoppten Selfies, auf denen man aussieht, als hätte jemand die Kameralinse des Handys mit Butter eingeschmiert?
Da sitzen sie dann in ihren Single-Wohnungen, polieren ihr Angebot, epilieren es, gelen es, cremen es ein, pudern und schminken und frisieren es. Und merken es nicht. Denn auch Beziehungen sind kein Accessoire – die erfordern harte Arbeit, täglich neue Kompromisse und ein gerüttelt Maß an Toleranz. Jemand, der aber an einem eingerissenen Gelnagel verzweifelt, wird sich da schwertun…
Ich mag Authentizität. Und die finde ich heutzutage selten. Mein junger, durchaus attraktiver Neffe, sitzt nächtens in seiner gestylten Single-Wohnung und sucht online ein nettes Mädel. „Ich fühle mich wohl, pah, wer braucht schon eine Freundin“, tönt er. Und trotzdem benimmt er sich wie ein Süchtiger auf „cold turkey“ – kaltem Entzug.
Sehen Sie, DAS meine ich. Alleinsein ist nur schön, wenn man es freiwillig tun kann. Wird es einem vom Leben aufgezwungen, benennt man es um in „Einsamkeit“. Und die hat scharfe Krallen.
Alleinsein ist das Design-Accessoire unter den Zuständen, ein delikater Luxus, der uns Freiraum verschafft für Dinge, die wir gern tun oder für die wir keine Zeugen gebrauchen können. Aber die Übergänge zur großen, bösen Schwester, der Einsamkeit, sind fließend. Ehe man sich versieht, hat man die unsichtbare Grenze überschritten. Und da wartet sie, um uns Löcher ins Herz zu schlagen, uns den Mut zu nehmen, uns auf uns selbst zurückzuwerfen, der flüsternden Stille auszusetzen, die lauter sein kann als jedes Konzert von Rammstein.
Erinnern Sie sich noch an die Serie „Golden Girls“ aus dem Jahre 1985? Rose, Blanche, Dorothy und Sophia, alle zwischen 55 und 80, leben in der Villa von Blanche zusammen, wo jede ein eigenes Zimmer bewohnt. Sie amüsieren sich mit verschiedenen Männern, trösten sich gegenseitig mit Käsekuchen und guten Ratschlägen bei Liebeskummer und vermitteln dem Zuschauer vor allem eines: dass Leid tatsächlich halbiert und Freude verdoppelt werden können, wenn man sie mit anderen teilen kann.
„Freundschaften“ sind die neue Ehe, die ermöglichen einem ein unabhängiges Leben voller Spaß mit null Verzicht oder Kompromissen, das Äquivalent von Zucker-Ersatz beim Backen, das Kunstleder unter den Halbschuhen, das Low-Carb bei der neuen Diät. Genuss ohne Reue.
Meiner Meinung nach war die Serie „Golden Girls“ nicht ausschließlich wegen der charismatischen Hauptdarstellerinnen Betty White (Rose), Bea Arthur (Dorothy), Estelle Getty (Oma Sophia) und Rue McClanahan (Blanche) so erfolgreich, sondern weil sie dem Zuschauer etwas Wichtiges vermittelte: eine allen Krisen und Anfechtungen standhaltende Freundschaft – allerdings in Ermangelung von passenden Lebensgefährten.
Dieses Prinzip wurde später von der Serie „Friends“ sehr erfolgreich fortgeführt und fand anschließend in Produktionen wie zum Beispiel „New Girl“ mit der bildhübschen Zooey Deschanel oder „How I met your mother“ seinen vorläufigen Abschluss.
In unseren schnelllebigen Zeiten der Ent-Solidarisierung („Will mich nicht um jemanden kümmern, das ist nur Stress“) scheint der Wunsch nach echten zwischenmenschlichen Beziehungen, nach Halt und sozialen Auffangnetzen, eine tiefsitzende menschliche Sehnsucht zu sein, auch wenn es nicht zugegeben wird. Fast alle von uns fühlen sich irgendwann einmal einsam, so ganz tief im Inneren, an diesem beängstigend dunklen Fleck in unserem Herzen, in den wir nie jemanden hereinlassen, und der nur mit Spezialausrüstung zugänglich ist. Da schauen wir nie hin, wir vermeiden es, uns dieser unheimlichen Stelle zu nähern. Das könnte wehtun.
Tut es.
Und so tönen sie ganz laut, wie glücklich sie sind, dass sie es gar nicht anders wollen. Wenn ich ehrlich bin, macht mich das ein wenig traurig. Ich höre Kinder im dunklen Keller pfeifen, sehe Lebensmodelle, die über kurz oder lang der Wirklichkeit zum Opfer fallen werden, registriere diese herrliche Unbefangenheit, und ich nehme Unschuld wahr. Aber ich erkenne auch Hedonismus, Egoismus und eine soziale Kälte, Vereinsamung, auf eine ganz perfide Art und Weise
Denn zufrieden sind sie nicht. Alle wollen wir doch sie haben, diese Freundschaft, die immer hält, ein paar Menschen – es müssen ja nicht viele sein – auf die wir uns verlassen können, die uns in schwarzen, sepiagefärbten Tagen zur Seite stehen, uns trösten, uns zur Beerdigung des Opas begleiten. Nicht jeder von uns hat das Glück, einen Partner fürs Leben zu finden, mit dem man alles teilen kann, darum sind echte Freunde wichtiger als je zuvor. Und es ist schwieriger als je zuvor geworden, welche zu finden. Zwischen Binge-Watching, Zocken und coolen Freizeitaktivitäten bleibt man auf der Strecke, wenn man nicht mithalten kann in diesem Wettbewerb um das coolste Dasein, die größtmögliche Abgeklärtheit und die exzentrischste Selbstdarstellung. Da sind „Freunde“ dann nur noch unbezahlte Claqueure. Sie klatschen und loben uns, wir sie auch. Und wenn es nichts mehr zu beklatschen gibt?
Der Kern meiner Aussagen ist folgender: Wer Alleinsein als andauernden Glückszustand enpfindet, braucht Freunde, die auch im Schleudergang des Lebens zu einem halten, nicht nur während der Weichspülung. Aber dafür ist uns dank unzähliger Hollywood-Produktionen und immer mehr „Ich, ich, ich“ das Gespür verlorengegangen.
Wer fängt diese jungen Menschen auf beim ersten rauen Wind, wer holt sie aus den versifften Schlammgruben des Schicksals, in denen jeder von uns mal landet? Was haben wir vergessen, der Instagram- Snapchat- und Facebookgeneration beizubringen? Ist es wirklich nur der Übermut der Jugend, oder haben wir etwas Essentielles übersehen? Sind Begriffe wie „Anstand, Pflichtgefühl“ tatsächlich komplett überholt? Oder möchte ich nur ein paar unbefangenen jungen Menschen Dinge aufbürden, die nicht mehr in Mode sind?
Mich um andere zu kümmern, denen es schlecht geht, hat mich auch mit 25 schon „gestresst“. Das gebe ich zu. Ich hab‘s aber trotzdem getan, denn irgendwann war ich dann die, um die sich jemand gekümmert hat. Und ich war sehr dankbar und bin es heute noch. Mit dem „Kümmern“ hab ich übrigens nie aufgehört…
Man kriegt immer nur das raus, was man selbst auch gegeben hat. Im Falle von „Alles im Kühlschrank gehört mir, mir allein“, frage ich mich, wie es dann mit der Liebe aussieht – dem Wichtigsten, das wir zu verschenken haben? Oder mit emotionalen Bedürfnissen anderer? Sind solche Menschen überhaupt zu selbstlosem Tun imstande? Jemanden zu lieben, bis dass der Tod einen scheidet, eines Kindes wegen auf vieles zu verzichten?
Freunde sind wichtig. Keine Frage. Allein zu leben kann nett sein und komfortabel. Aber Dinge ändern sich. Manchmal schneller, als einem lieb ist.
Eins ist aber sicher: Keine der „Golden Girls“ wäre sechs Wochen tot in ihrem Zimmer gelegen, ehe es jemandem auffällt. Bei Hendrik-Thorben bin ich mir nicht so sicher. Wenn der sich zwei Monate nicht meldet, könnte er ja grade auch mit dem Mountainbike im Himalaya auf Selbstfindungstrip sein. Und da er allein lebt, muss er auch niemandem Bescheid geben. Er wirft einfach Power-Bank, Solar-Ladegerät und Prepaidkarte in einen nachhaltig erzeugten Rucksack, checkt ein und fliegt los. Wir sehen ihn dann garantiert bei Instagram oder Facebook, wo er seine lachenden Selfies vor dem Abgrund mit allen Freunden teilt.
Oder auch nicht…
Herzlichst,
Ihre Barbara Edelmann
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