Telefone mit Wählscheibe und Landkarten statt Navigationssysteme – viele Menschen können sich gar nicht mehr vorstellen, wie es einst zuging und junge Leute kennen all das sowieso nicht mehr. Schöne neue Welt eben – so auch der Titel der aktuellen Kolumne von Barbara Edelmann, die die modernen Errungenschaften mit einem Augenzwinkern aufs Korn nimmt:
„Wer lange fragt, geht lange irr“, pflegte meine Mutter zu sagen. Das sollte bedeuten, dass, wenn man zu viele verschiedene Menschen fragt, man vermutlich mehrere falsche Antworten bekommt und sich verzettelt.
Heute, im Informationszeitalter, war es noch nie so einfach, viele verschiedene Menschen zu fragen und viele unterschiedliche Antworten zu bekommen. Googeln Sie versuchshalber einfach ein durchschnittliches Krankheitssymptom wie zum Beispiel „erhöhte Temperatur“ und lernen Sie anschließend das Fürchten, denn vom irreparablen Motorschaden bis zur unentdeckten Tropenkrankheit, bei der einem am Schluss die Ohren abfallen, kann das wirklich alles sein. Und es steht da wie in Stein gemeißelt.
„Die Leute kommen mit einer fertigen Diagnose aus dem Internet zu mir“ seufzte mein Hausarzt frustriert. „Und sie lassen sich nicht umstimmen, dass es doch nicht die Beulenpest ist. Es ist viel schwieriger geworden, denn die Patienten sind nicht informiert, sondern irritiert.“
Vieles hat sich seit damals verändert, und wir sitzen mittlerweile auf einem Tiger, von dem man nicht mehr abspringen kann, ohne die Orientierung zu verlieren. Dabeisein ist schließlich alles.
Wieviele Eltern grübeln in dieser Sekunde, was ihr Kind am Computer grade tut? Sieht es sich bei Youtube Bugs-Bunny-Videos an, oder surft es auf einer Pornoseite, wo ihm Inhalte vermittelt werden könnten, die seine sexuelle Entwicklung nachhaltig schädigen?
In diesem riesigen virtuellen Sumpf blühen zum Teil schlimme Dinge unter der Oberfläche, grausige Blüten, gefüllt mit Hass, perfide Auswüchse des menschlichen Geistes, die der seelischen Gesundheit von Heranwachsenden und auch Erwachsenen nachgerade abträglich sind.
Das World Wide Web – dieser riesengroße digitale Bauchladen für die Menschheit, es wächst und wächst exponentiell. In ihm bekommen Sie heutzutage jede Information, die Sie möchten, ob es sich um eine weltweit nur von 7 Menschen ausgeübte Sexpraktik oder die Anleitung zum Bau einer Bombe handelt, ist egal.
Durch die rasende Geschwindigkeit dieser Entwicklung sind einige unserer Mitmenschen massiv überfordert. Immerwährende Erreichbarkeit und allezeit verfügbare Informationen haben einen hohen Preis. Wer dem Ganzen skeptisch oder unwissend gegenübersteht, wird mitgeschleift oder bleibt zurück.
Erinnert sich noch jemand an Autos ohne Navigationsgerät? Eins weiß ich sicher: Mit dem guten alten Shell-Atlas wäre es nicht passiert, versehentlich in ein Flussbett zu fahren. Der sagte nicht: „Halten Sie sich rechts.“ Den klappte man auf, suchte seine Route und fuhr dann los. Obwohl ich offengestanden nicht wirklich nachvollziehen kann, wie man mit den Augen auf der Straße und beiden Händen am Lenkrad in einen Fluss fahren kann.
Mittlerweile lese ich aber leider öfter die Schlagzeile: „Im Fluss/Bach/auf Eisenbahnschienen gelandet – Autofahrer folgte seinem Navi“. Selber schuld.
„Wieso gibst du deine Adresse als Zielpunkt ein?“ fragte ich neulich einen Freund. „Du wohnst da bereits 10 Jahre und kennst den Weg dorthin immer noch nicht?“
Das konnte er mir nicht beantworten. Er braucht vermutlich das Gefühl, dass ihm jemand sagt, was er zu tun hat. Ich fahre übrigens immer noch ohne, weil ich es hasse, wenn mir beim Fahren jemand dreinredet. Und wo ich wohne, weiß ich.
„Aktivieren Sie die Ortungsdienste, um unseren Service besser zu nützen“ fordern mich diverse Apps bei ihrer Installation auf. Sogar mein digitales Kochbuch möchte gerne wissen, wo ich mich herumtreibe. Kommt nicht in Frage.
Erinnert sich einer von Ihnen an Telefone mit Wählscheiben ohne Stimmwahl? An elektrische Tischrechner? An Röhrenfernseher oder Musik-Kassetten? Nicht zurückgespulte Videobänder, für die man zur Strafe in der Videothek 2 Mark bezahlen musste? Unsere technische Entwicklung hat nicht FortSCHRITTE gemacht, sondern riesige Hüpfer. Und alle hüpfen mit.
Die Kehrseiten der Medaille ist ziemlich düster, denn alles, das mir nützlich sein sollte, oder der Unterhaltung dient, kann mich auch überwachen: mein Smart-TV, mein Handy, meine Fitness-Uhr.
Ich erinnere mich an die Proteste gegen die Volkszählung 1987. Sogar eine Verfassungsklage wurde damals eingereicht. Leute gingen entrüstet gegen die Erhebung ihrer Daten auf die Straße. Lang ist es her.
Heute sagen wir: „Hey, Alexa, bestell mir mal eine Flasche Waschmittel, aber such ein Sonderangebot heraus. Weißt ja, was ich gerne mag.“
Ich selbst würde mir eher die Hände abhacken lassen, als so ein Ding ins Wohnzimmer zu stellen. Meine Nachbarin kriegt schon genügend mit. Mehr unfreiwillige Lauscher brauche ich nicht.
Mein Internetprovider seit dem Jahr 2000 (Ich bin eine treue Seele…), teilte mir kürzlich mit, dass er künftig im Zusammenhang mit der Firma Blabla meine Email-Korrespondenz analysieren werde. Nichts, wirklich nichts ist mehr privat. Gewöhnen Sie sich dran.
Die schöne neue Welt frisst gerade ihre Kinder. Sie tut das rasend schnell. Und die meisten Kinder klatschen entzückt.
Irgendwie ist alles inflationär geworden: Fotos, Musik, sogar das geschriebene Wort. Es gibt Self-Publishing und Instagram. Wenn ich wollte, könnte ich meine Einkaufslisten der letzten vier Jahre bei Amazon veröffentlichen, vielleicht mit dem wohlklingenden Titel „Hagelschaden“. Na und? Endlich ein Buch von mir. Wer schreibt, der bleibt. Und „bleiben“ möchten wir doch alle, oder?
Millionen von Selbstdarstellern. Millionen von Menschen, die so gern besonders sein möchten, sich von der Masse abheben. Und doch darin untergehen. Ich finde das sehr traurig.
Wir haben das Internetzeitalter, meine Damen und Herren. Jeder Depp kann auf einer selbstgebastelten Plattform seinen Senf veröffentlichen. Es wird gebloggt und getwittert, Schauspielerinnen fotografieren sich beim Zahnarzt oder in pikanten Situationen und zeigen Millionen ihre Zahnlücke oder Körperstellen, die ich nie kennenlernen wollte. Scham ist hinderlich in der schönen neuen Welt. Mit Scham wird man nicht berühmt. Um sich heutzutage aus der Masse hervorzuheben, muss man immer noch einen drauflegen.
Man baut sich innerhalb kürzester Zeit eine Website – auch hierfür gibt es idiotensichere Programme, und lässt die Welt an seinem glückseligen Leben teilhaben. Kein Gedanke so dürftig, dass er es nicht wert wäre, veröffentlicht zu werden. Keine volltrunkene Fratze so dämlich, dass man sie nicht ins Netz stellen könnte. Wieso soll Herr Müller aus Leverkusen nicht sehen, dass Kunigunde aus Pforzheim vorgestern stockbesoffen auf einer Batterie von leeren Flaschen mit verrutschtem T-Shirt eingeschlafen ist?
Indivualität und Selbstverwirklichung heißen die Zauberworte einer ganzen Generation. Talkshowmaster sind die Scharfrichter im Nachmittagsprogramm, und die Inquisition findet täglich und unmittelbar statt und nennt sich „shitstorm“.
Willkommen in der schönen neuen Welt von Huxley – willkommen in einem einzigen gigantischen „Big-Brother“-Container: dem Internet, das nie vergisst. Und Glückwünsche den paar vereinzelten echten Individuen, die es bis heute geschafft haben, ohne Paypal-Konto, Kreditkarten, Email-Account oder Handy mit GPS auszukommen. Die wahre Freiheit, die diese Menschen leben dürfen, erschließt sich heute keinem Jugendlichen mehr, für den es völlig normal scheint, dass unser aller Leben von heute auf morgen öffentlich gemacht wurde.
Glauben wir wirklich immer noch, dass „Big Brother“ nur aus einem Blech-Container besteht, oder haben wir mitbekommen, dass wir alle in einem gläsernen Käfig sitzen und staunend nach draußen blicken, wo uns unserer Meinung nach das „Nichts“ erwartet? Und dabei sind wir heute einsamer als früher.
Es gibt kein Leben ohne Eintrag bei „Facebook“, „Studi-VZ“ oder „Stayfriends“. Internet-Communities, bei denen wir nach Eingabe höchst sensibler und vertrauter Daten und Geheimnisse unseres Lebens wie ein Bilderbuch führen dürfen. Wir suchen unseren Partner, verwalten unser Tagesgeschehen, schließen virtuelle Freundschaften oder lehnen sie ab und lassen die Welt leichtsinnig an unserem Leben teilhaben. Jeder glaubt von sich, einzigartig zu sein und möchte das nach draußen bringen.
Ich bin ein ganz normaler Mensch, der im Laufe der letzten Jahrzehnte schon einge Menge erlebt hat und von dem atemberaubenden Fortschritt geblendet fasziniert beobachtet, wie Heerscharen von Menschen ihre Identität einer anonymen Masse preisgeben, die das im Grunde einen Dreck interessiert.
Versuchen Sie mal , einem Jugendlichen für einen Tag das Mobiltelefon abzunehmen. Er wird vermutlich nach einer halben Stunde ohne Kontakt zu seinen Freunden den Verstand verlieren. Natürlich könnte er ohne weiteres aufstehen, ein Haus weiterlaufen und dort an die Tür klopfen, aber das wäre total uncool.
Lehrer haben die größten Probleme, ihrer Klasse überhaupt noch etwas beizubringen, weil unter dem Tisch gechattet wird, dass sich die Balken biegen. Überhaupt ist der Lehrer als Respekts- oder Autoritätsperson schon lange überholt. Die neuen Vorbilder sind Youtouber und Influencer. Dieser Begriff wird nicht ohne Grund vom Namen einer ansteckenden Infektionskrankheit abgeleitet.
Von klein auf bekommen Kinder zu hören, dass sie als natürliche Ressourcen und zukünftige Renterversicherungszahler wichtige Einnahmequellen für den Staat und das Gemeinwohl darstellen. Das Fernsehen als unumgängliches Medium tut sein übriges. Die Uniformität von Sneakers , Hoodies, konformem Haarschnitt und Gruppengedöhns entgeht dem jungen künftigen Leistungsträger völlig, da er sich scheinbar freiwillig und ohne Nachdenken Zwängen unterordnet, die in ihrer ureigenen Form so restriktiv und gewalttätig sind, dass ihm bei genauem Nachdenken Angst und bange werden müsste.
Ich liebe Technik und bin allem Neuen gegenüber aufgeschlossen. Meinen Reciever habe ich allein angeschlossen und konfiguriert. Ich designe Internetseiten, mache Videoschnitt und digitale Bildbearbeitung und trage mein Mobiltelefon mit mir herum wie einen Herzschrittmacher, denn das ist mein Tor zu dieser gruseligen, ins Unendliche expandierende Welt aus Bits und Bytes. Der Eingang für einsame Herzen ins potenzielle Glück, das Portal für Sehnsüchte und Wünsche, die letzte Lagerstätte für zerborstene Träume der Hoffnungslosen, das Sammelbecken von Misanthropen, Realisten, Zynikern und Optimisten. Alles das und noch viel mehr.
Wissen Sie, was für mich die unheimlichste Stelle in dem Buch „1984“ von George Orwell war, in dem eine fiktive repressive, von einigen wenigen gesteuerte Zukunfsgesellschaft beschrieben wird, die allumfassender Bewachung ausgesetzt wird? Der allerletzte Satz. Der lautet nämlich:
„Er liebte den großen Bruder.“
Ihre
Barbara Edelmann
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