Donnerstag, 21. November, 2024

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Mein Freund, der Alkoholiker – Kolumne von Barbara Edelmann

Lang ist’s her, dass mein Kumpel J. damals in der Pilsbar sein Glas hob: „Prost Leute. Ich trinke nur noch an Tagen mit einem ‚R‘ in der Mitte. ‚Morntag, Diernstag, heut ist Mirtwoch‘!“

Wir fanden das damals witzig. Heute nicht mehr, denn J. ist vor vier Jahren gestorben. An Leberzirrhose. 

Ich selbst trinke seit meinem 29ten Lebensjahr ausschließlich Wasser, aus medizinischen Gründen. Da erklärte mir nämlich ein Arzt mit ernstem Gesicht: „Sie können schon Alkohol konsumieren, aber…“

Ein halbes Glas Prosecco an Silvester

Gerade eben hatte ich eine lebensbedrohliche Erkrankung überstanden, und dieses „aber“ sensibilisierte mich. Seit jenem Tag habe ich mir höchstens mal an Silvester ein halbes Glas Prosecco gegönnt, und das mit extrem schlechtem Gewissen. 

Manchmal erinnere ich mich an früher. An die vielen Feten, die ich mit meinen Freunden gefeiert habe, an den Spaß, den wir hatten. Ich war einem guten Schluck gegenüber nie abgeneigt, hab viel gelacht und nicht wenig getrunken. Schön war’s. Damals. 

Aber die Drinks fehlen mir nicht. Es ist ewig her, dass ich mit meinen Freunden am Lagerfeuer saß. Wir sind alle erwachsen geworden. Sogar in den dunkelsten Stunden – und derer gab es einige – kam mir nie mehr der Gedanke: „Jetzt wäre aber ein Schluck aus der Pulle gut.“ Alkohol ist aus meinem Leben so gut wie vollständig verschwunden, und darüber bin ich nicht traurig.

Trotzdem führe ich eine gut bestückte Hausbar. Sollten Sie mich besuchen, biete ich Ihnen eine schöne Auswahl an, ich kaufe sogar extra für Sie ein, wenn Sie eine bestimmte Marke bevorzugen. Als mein Gast soll es Ihnen an nichts mangeln.

Wer nicht trinkt, macht sich oft verdächtig…

Anfangs war es hart mit der Abstinenz. Immer, wenn ich ablehnte, hieß es: „Ein Glas geht doch bestimmt, oder? Stell dich nicht so an.“

Oft hörte ich auch: „Komm schon, nur ein Gläschen, zum Anstoßen“, oder „Bist du etwa trockener Alkoholiker?“.

Nein, war ich nicht. Aber das glaubte mir ohnehin keiner. In den ersten Jahren saß ich oft hilflos inmitten angetrunkener Party-People und bemühte mich, an den richtigen Stellen zu lachen. Das ist nüchtern nicht ganz einfach, denn vieles ist gar nicht so witzig, wie jemand mit 1,6 Promille vielleicht glaubt. 

Es dauerte Jahre, bis mein Nicht-Trinken in den Köpfen sämtlicher Bekannten verankert war. Sie haben keine Ahnung, auf wie vielen Feten ich hilflos versuchte, Konversationen mit Leuten zu führen, die sogar einen gelösten Schnürsenkel für zum Brüllen witzig halten. Man ist die Spaßbremse, der Puritaner, man ist diejenige, die immer seltener eingeladen wird, weil sie die Stimmung versaut und wie ein grauer Bremsklotz aus dem bunten Treiben heraussticht.

Spaß am Feiern auch ohne Alkohol

In den letzten Jahrzehnten brauchte ich nie Alkohol, um lustig zu sein oder zu feiern. Klar kann man meine eigene gute Laune nicht der bierseligen Fröhlichkeit eines Festzeltbesuchs vergleichen, aber ich bin durchaus imstande, Spaß zu haben. Schunkeln fand ich ohnehin schon früher doof, mit jedem Wildfremden, der neben mir sitzt, Bruderschaft zu trinken auch. Für mich hat sich also nicht viel geändert.

An dieser Stelle zitiere ich aus einer Seite des Bundesgesundheitsministeriums:

 „6,7 Millionen Menschen der 18-64-jährigen Bevölkerung in Deutschland konsumieren Alkohol in gesundheitlich riskanter Form. Etwa 1,6 Millionen Menschen dieser Altersgruppe gelten als alkoholabhängig.“

Das sind 1,6 Millionen Schicksale, die sich hinter verschlossenen Türen oder in aller Öffentlichkeit abspielen: misshandelte Ehepartner oder Kinder, verlorene Existenzen, das sind Dramen, die sich – solange sie sich irgendwie verbergen lassen – unserer Aufmerksamkeit entziehen.

Jede Zahl ein Schicksal

Und in diese Statistik sind über 64jährige nicht mal mit einbezogen. Die hören ja nicht automatisch nach ihrem 65ten Geburtstag auf, zu trinken.

Allein im Jahr 2018 starben bei alkoholbedingten Verkehrsunfällen mit Personenschaden 244 Menschen (Quelle: „runtervomgas.de“). Diese 244 Menschen könnten noch leben, hätte jemand rechtzeitig „Nein“ gesagt. Sie könnten mit ihren Familien zusammen sein, gemeinsam essen, feiern, sich am Dasein freuen.

Es gibt viele Gründe, zum Alkohol zu greifen (oder gar keinen, wie ich selbst seit Jahrzehnten weiß): Einsamkeit, Jobverlust, Krankheit, Armut, Ängste, Gruppendynamik, Gelegenheit oder Leichtsinn.

Was früher, in jungen Jahren, irgendwie spaßig klang: „Tragt mich zum Auto, damit ich euch heimfahren kann“, oder „Mit fünf Bier ist man auf der Stadt betrunken und auf dem Land der Fahrer“, klingt angesichts obengenannter Tatsachen gar nicht so toll.

Wenn man jung ist, kommt einem die Lebenszeit unendlich vor 

Oft denke ich an meinen allerbesten Freund auf der Welt: Erik. Mit Anfang 20 fanden wir es amüsant, wenn er sein Glas erhob und rief: „Prost! Ich bin kein anonymer Alkoholiker, sondern ein bekannter.“

Dann lachten wir schallend, weil wir uns sicher waren, dass wir ewig leben würden. Wir waren jung, wollten feiern und auf jeden Fall ganz anders (und besser) leben als unsere bräsigen Eltern.

Erik kannte ich seit meiner Jugendzeit. Er war der Bruder einer Freundin: hochintelligent, auf eine düstere Weise gut aussehend und eloquent. Seine Ausbildung schloss er mit Auszeichnung ab, danach heiratete er mit Mitte 20 eine bildschöne junge Frau, die zwei Kinder von ihm bekam.

Alles lief bestens, Erik und seine Familie lebten in einem hübschen kleinen Haus, er fuhr in seiner Freizeit Motorrad… und trank weiter. So lange, bis die Frau nach einigen Jahren samt den gemeinsamen Kindern verschwand und die Scheidung einreichte.

Wer trinken will, findet immer einen Grund

Nach der Trennung soff Erik exzessiv. Er war ja verlassen worden. Während seiner Ehe hatte er getrunken, weil er es angeblich mit seiner bösen Frau nicht ohne Alkohol aushalten konnte. Und zuvor, weil er einsam gewesen war. Ein Grund findet sich immer, habe ich mit den Jahren gelernt.

Über viele Jahre blieb Erik gern gesehener Gast auf vielen Partys. Meist brachte er kartonweise Getränke mit, die er an alle verteilte,  und an denen sich auch selbst kräftig bediente. Mit Bier oder Wein gab er sich schon lange nicht mehr ab, sondern konzentrierte sich auf die harten Sachen wie Gin, Wodka oder Tequila.

Als er 30 war, wurde ihm der Führerschein, nach etlichen massiven Verstößen gegen die StVO, auf Lebenszeit entzogen. Er behauptete, das läge an einer Verschwörung gegen ihn, an der CIA, BND und MAD beteiligt seien, denn er, Erik, sei einfach zu klug und durchschaute angeblich das ganze Spiel.

Wein im Tetrapack

Die Erklärung, um welches Spiel es sich handelte, blieb er uns schuldig. Von diesem Tag an sah man ihn nur noch auf einem alten schwarzen Damenfahrrad durch die Stadt kreuzen, immer etliche Liter Wein in Tetrapacks auf dem Gepäckträger.

Zum Arzt gehen wollte er nie, denn er meinte, kein Mediziner kenne seinen Körper, und die seien alle viel dümmer als er. Das Problem bei vielen intelligenten Menschen ist: Sie können sich nicht vorstellen, dass es noch andere kluge Leute außer ihnen gibt.

Ehe Erik endgültig abstürzte, versuchte ich alles, um ihn zu retten. Immerhin war er mein bester Freund, mit dem ich über jedes Thema sprechen konnte, und er war mein engster Vertrauter. In nüchternen Momenten gab es keinen besseren Gesprächspartner als ihn. Er war klug, voller Verständnis und absolut integer. Ich mochte ihn sehr. Seine Trinkerei mochte ich nicht.

Also schleppte ich ihn zum Blauen Kreuz, ich kochte für ihn, und ich fuhr ihn zu diversen Vorstellungsgesprächen, von denen er jedes Mal wie erwartet erfolglos zurückkehrte, denn er sah bereits aus wie der Tod von Altötting, abgemagert und mit fettigen Haaren.

Tatsachen werden oft verkannt

Erik allerdings war immer noch der Überzeugung, er könnte irgendwie sein Leben auf die Reihe kriegen und den Alkohol in seinen Alltag integrieren. Dass ihn dieser längst im Würgegriff hatte, registrierte er nicht. Denn dafür hätte er zugeben müssen, ein Problem zu haben.

Einmal meldete er sich auf meinen Druck hin zu einer Entgiftung im Krankenhaus an. Ich freute mich und fuhr ihn ins Hospital, denn ich wollte, dass er es hinkriegt. Ich wollte meinen besten Freund behalten, weil ich sah, wie er in sich zusammenfiel, wie er es nicht mehr schaffte, Mahlzeiten, die ich für ihn kochte, bei sich zu behalten. Ich wünschte mir für ihn, dass ihn nicht die Kräfte verließen, nach nur einem Kilometer auf dem Rad.

Als wir damals beide in dem blitzsauberen Krankenzimmer standen, funkelte er mich unvermittelt böse an und fauchte: „Du bist eine beschissene Freundin und wirst ewig Single bleiben.“ Dann rannte er an der Krankenschwester und mir vorbei und verschwand. Ich verfolgte ihn, verlor ihn aber in der Tiefgarage und sah ihn dann längere Zeit nicht wieder, denn er ging nicht mehr ans Telefon.

Viele Angehörige oder Freunden werden zu “Co-Alkoholikern”

Wenn man mit jemandem bekannt ist, der ein Problem mit Alkohol hat, nimmt das gravierenden Einfluss auf das eigene Leben. Ich weiß nicht, wie oft ich gegrübelt habe, oder gegoogelt, auf der Suche nach Antworten, wie oft ich mir wie ein Versager vorgekommen bin, weil ich es nicht geschafft habe, Erik vom Alkohol loszubringen. Sicher war mir der Begriff „Co-Alkoholiker“ bekannt, aber ich wollte einfach nicht aufgeben. 

Und so fütterte ich ihn weiter mit Dingen, die er nicht bei sich behalten konnte. Ich holte ihn zu mir, ich sah zu, wie er mit zitternden Händen das erste Glas des Tages in sich hineinschüttete.

Einmal saß Erik bei mir auf dem Sofa. Ich hatte mir nachmittags frei genommen und ihn mit dem Auto abgeholt, damit ich ihn füttern und in die Dusche schicken konnte, denn er lebte mittlerweile in einer kleinen 30 qm-Bude ohne fließend warmes Wasser. Am Eingang der Wohnung stapelte sich Rotwein in Tetrapacks, sein kleiner Holzofen wurde sporadisch mit Prospekten beheizt, die er im Briefkasten fand.

Damals war er schon ziemlich weit unten angekommen – und doch in den wenigen nüchternen Momenten der intelligenteste, empathischste Mensch, den ich je kennengelernt hatte. Nun gerade war er auf meiner Couch zusammengesunken und schien zu schlafen, während ich irgendwas erzählte. Plötzlich schreckte er hoch und brüllte: „Sie kommen!“ Dann sackte er wieder in sich zusammen.

Ich erinnere mich noch an einen Abend, an dem ich Erik als Gasthörer zu einem Treffen der Anonymen Alkoholiker begleitete. Man war so nett und hatte mir eine Sondergenehmigung erteilt.

Gegen den Alkohol verlieren, ist für viele Menschen an der Tagesordnung

Den ganzen Abend erzählten fremde Menschen ihre Geschichten. Sie hatten alles verloren. Beinahe jeder litt noch an anderen Abhängigkeiten: Beruhigungs- oder Schmerzmittel, Drogen oder Sex. Als ich in die kühle Nachtluft trat, war ich dankbar, dass eine gütige Macht mich davor beschützt hatte, in dieselben Abhängigkeiten zu geraten wie diese Menschen, die mit aller Kraft dagegen kämpften, nicht noch mehr ins Abseits zu rutschen. Dieser Kampf kostet beinahe übermächtige Kraft, und nicht wenige verlieren ihn wieder.

“So wie die bin ich nicht”, sagte Erik auf dem Nachhauseweg. Und ging nie wieder hin. 

Irgendwann holte ich ihn nicht mehr zu mir, weil ich es nicht ertrug, seinen Verfall hilflos beobachten zu müssen. Er zog zu seiner alten Mutter ins Obergeschoss, die er vom Tag seines Einzugs an inbrünstig hasste. Warum, weiß ich bis heute nicht. Sie brachte ihm täglich Essen hoch, das er unberührt ließ. Gelegentlich fuhr sie ihn in den Supermarkt, um ihm Nachschub zu besorgen. Und sie war genauso hilflos wie ich, die ihn nicht mehr besuchte. Es tat mir einfach zu weh, das zu sehen, was noch von ihm übrig war.

Manchmal, wenn wir telefonierten, sagte er plötzlich im Flüsterton: „Ich muss aufhören, es kommt gerade die Treppen hoch.“ Mit „es“ meinte er seine Mutter.

Viele Abhängige biegen sich die Welt zurecht

In den letzten Jahren wurde er noch dünner und zitterte wie Espenlaub, wie mir Bekannte erzählten. Er bekam offene Geschwüre an den Beinen und behauptete am Telefon, das käme vom Barfußlaufen im Gras und den scharfen Halmen. 

Seine Familie wollte nichts unternehmen. Immerhin trank Erik seit über 30 Jahren – sie kannte ihn nicht anders und scheute den bürokratischen Aufwand oder das Getuschel der Nachbarn. 

Einmal rief ich heimlich seine Mutter an. „Bitte lassen Sie ihn zwangseinweisen!“, bettelte ich.

„Aber dann hasst er uns“, antwortete sie hilflos.

Ich legte auf.

Ein früher Tod – keine Seltenheit bei Alkoholikern

Mit 53 starb Erik, nach einem dreitägigen Krankenhausaufenthalt, an Organversagen, verursacht durch übermäßigen Alkoholmissbrauch. Seine Mutter hatte ihn zuvor bewusstlos auf dem Boden liegend gefunden. 

Ich denke oft an ihn, denn er war immerhin, vor ewigen Zeiten, mein bester Freund gewesen. Der schmale Grat, auf dem er sich bewegte, war immer abschüssiger geworden und hatte ihn schnurstracks auf den Abgrund zugeführt.

Ich denke an unsere Telefonate. Man musste ihn früh am Tag anrufen, denn nach 11:00 Uhr war Erik nicht mehr zurechnungsfähig und sprach verwaschen. Manchmal wurde er aus nichtigem Anlass bitterböse und beschimpfte mich. Von dem Menschen, den ich einmal gekannt hatte, war nichts mehr da.

Manchmal hörte er mir zu, manchmal legte er einfach auf. Man konnte das nie im Voraus wissen. Wir gingen im Streit auseinander, denn er hatte etwas sehr Böses zu mir gesagt, und ich beendete damals wortlos das Gespräch. Vier Monate später war er tot. Und wir hatten uns nie versöhnt. Noch etwas, wegen dem ich mir Vorwürfe mache.

Erik ist kein Einzelfall. Mittlerweile sind es viele Beerdigungen, bei denen ich weiße Rosen in offene Gräber von Menschen warf, die dem Alkohol zum Opfer gefallen sind. Man ist so verdammt hilflos. Und es ist hart für uns, die wir zurückbleiben. 

Fahren trotz Alkoholgenuss – das machen mehr Menschen als man denkt

Vor einiger Zeit bekam ich am Sonntagnachmittag Besuch von einer Bekannten. Es war 15:30 Uhr. „Möchtest du Kaffee, Tee oder Cola?“, fragte ich. „Bier“, antwortete sie. Und bis 18:00 Uhr, als sie aufbrach, hatte sie fünf Flaschen getrunken, setzte sich in ihren Wagen und fuhr nach Hause. Warum ich nichts getan habe? Das darf ich hier leider nicht schreiben, denn es könnte berufliche Schwierigkeiten für sie nach sich ziehen. Alkohol ist überall. In so vielen Menschen.

Auf einer Jubiläumsparty vor vier Jahren gesellte sich gegen Mitternacht ein unbekannter Mann zu uns – aufrecht, ohne zu schwanken, ganz normale Sprache.

„Merkwürdig“, sagte er. „Ich habe schon zwölf Bier, aber ich werde ums Verrecken nicht betrunken.“

Wir nennen sowas hier in der Gegend  „Kampftrinker“. Einer dieser Fälle, von denen man dann in der Zeitung liest: „Bei dem Unfallverursacher wurde ein Alkoholgehalt von 2,6 Promille im Blut nachgewiesen.“

Zwölf. Bier. In vier Stunden.

Da ist die Mutter von vier Kindern, von denen drei mittlerweile die Schule abgeschlossen haben und studieren. Für ihre Kinder tut und tat sie immer alles. Und wenn die mal nicht hinsahen, trank sie sich halbtot. Einmal rief sie mich mittags gegen 13:00 Uhr volltrunken an und lallte schluchzend ins Telefon: „Waruuum magst du mich nicht meeeehr?“

„Wir hatten vereinbart, dass ich nicht mit dir telefoniere, wenn du betrunken bist“, antwortete ich kalt und beendete das Gespräch. Es tat mir nur ganz kurz leid, denn es war nicht das erste Mal.

Es ist überall…

Niemand würde A. ansehen, dass sie trinkt, dass sie Reste aus leeren Weinflaschen zusammenschüttet, wenn das Geld nicht mehr reicht für einen Karton Edelzwicker aus dem Supermarkt. Wirklich niemand. Sie ist eine gepflegte Erscheinung mit guter Allgemeinbildung und einer blitzsauberen Wohnung. Es ist überall. Man sieht es nur nicht sofort. 

An einem meiner früheren Arbeitsplätze hatte ich einen Kollegen, den alle mochten. Er war ruhig, zurückhaltend und kompetent. Ich unterhielt mich gern mit ihm. Er schien unter permanentem Durst zu leiden, denn ständig stand eine Coladose vor ihm auf dem Schreibtisch. Irgendwann stellte sich heraus, dass der Inhalt dieser Coladose beinahe ausschließlich aus Schnaps bestand, und er wurde entlassen.

Ich habe ihn nie mehr gesehen. Er war in der ganzen Zeit, die ich ihn kannte, nie ausfällig geworden, hatte nie verwaschen gesprochen, nie geschwankt, und nie einen Fehler bei seiner Arbeit gemacht. Ein Spiegeltrinker. Manchmal frage ich ich, ob er es wohl geschafft hat. Alles Gute, Herr B.

Jetzt werden Sie vielleicht sagen: „Was kennen Sie denn für Leute?“ Sie würden sich wundern. Süchtige finden sich in allen Gesellschaftsschichten: von Geschäftsleuten über Lokalpolitiker, von Medizinern bis zum Bauarbeiter. Man sieht es den meisten nicht an, solange sie nicht auf allen Vieren im Lokal an einem vorbeikriechen. 

Alkohol ist eine Drogen von vielen – eine gesellschaftlich legalisierte

Überall wird für Alkohol geworben, der ab 18 frei verkäuflich ist. Er ist eine gesellschaftlich legalisierte Droge, ein sogenanntes Genussmittel. Man kann ihm nicht ausweichen. Sobald Sie volljährig sind, dürfen Sie davon kaufen, so viel sie möchten. Und sich damit tottrinken.

Wenn man dann merkt, dass es keine Entscheidung mehr ist, ob man die erste Flasche des Tages öffnet, sondern ein Muss, ist es zu spät.

Ich gönne wirklich jedem seine Entspannung, fröhliches Feiern und gelegentliche Ausrutscher, die mit einem Kater enden. Nur ist die Grenze zwischen dem einen Glas, das am Abend entspannt  und dem einen Glas, das süchtig macht, fließend und unsichtbar. Ich wiederhole: Irgendwann ist es keine Entscheidung mehr, die man frei treffen kann, sondern etwas, ohne das man nicht durch den Tag oder Abend kommt.

Distanz gegenüber Alkoholisierten zu wahren, macht Sinn

Ganz ehrlich gestehe ich, dass ich mich mittlerweile beim kleinsten Anzeichen von Alkoholmissbrauch zurückziehe. Ich ertrage die mitternächtlichen Anrufe („Was habe ich dir getan? Du bist mein einziger Freund“) schlichtweg nicht mehr, die Hilflosigkeit, die Angst und die Ohnmacht.

Das tut mir selbst weh, denn ich bin ein hilfsbereiter Mensch, aber man gerät zwischen die Fronten und wird zerrieben. 

Und darum ärgere ich mich über Werbung für Alkohol. Er ist kein Vitaminbonbon oder ein Stück Schokolade, sondern eine bewusstseinsverändernde Droge. Klingt hart, nicht wahr? Stimmt aber. 

Erst kürzlich rief mich ein alter Bekannter aus dem Ausland an. Seine Frau trinkt, und ihr Zustand ist recht fortgeschritten. „Wieviel trinkst DU denn?“, fragte ich, denn in meiner Erinnerung war auch er einer Buddel Wein nicht abgeneigt.

„Ich bin nur ein halber Alkoholiker“, antwortete er. „Im Gegensatz zu ihr.“

 Es gibt keine halben Alkoholiker, genauso wenig wie ein bisschen Schwangere. Insgeheim weiß er es, denn er ist ein kluger Mann. Ich habe ihn blockiert.

Bitte verstehen Sie diesen Text nicht falsch. Ich habe nur meine eigenen Erfahrungen geschildert. Diese Menschen, die für immer verschwunden sind, ich vermisse sie. Heute noch.

Es ist jedermanns ureigene Entscheidung, ob, was, und wieviel er trinkt. Eine ganze Zeitlang zumindest. Dann wird einem diese Entscheidung abgenommen. 

Es geht lange gut bis zum point of no return.

Hochachtung vor allen, die es geschafft haben

An dieser Stelle spreche ich allen meine absolute Hochachtung aus, die es geschafft haben und täglich schaffen, trocken zu bleiben. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie sehr Sie kämpfen, und was Sie leisten. Sie sind nicht allein. 

Und ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie durchhalten. 

Es ist es wert.

Mit traurigen Grüßen,

Barbara Edelmann

Bildnachweis: stock.adobe.com / fizkes 

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