Kennen Sie das? Man sitzt vor dem Fernseher und muss gähnen – so heftig, dass man sich beinahe den Unterkiefer ausrenkt. Lachen Sie nicht, das ist schon vorgekommen.
Dann stellt man fest, dass man todmüde ist: „Oh, schon halb elf, höchste Zeit, morgen ist ein harter Arbeitstag, ich muss um sechs Uhr raus.” Also Zähneputzen, ab ins Bett. Noch schnell den Wecker stellen, Licht aus. Und dann kommt dieser eine geniale Moment, in dem man gerade dabei ist, ins Land der Träume zu gleiten. Die Grenze zwischen Wachen und Schlaf verschwimmt, das Gehirn schaltet ins Standby.
Wie ein Alarmknopf im Kopf!
Pling! Mit einem Schlag ist man hellwach, als hätte etwas im Kopf einen Alarmknopf gedrückt. Etwas, das sehr gemein und boshaft ist, denn man konnte sich doch eben noch kaum mehr aufrecht halten vor Müdigkeit und versteht jetzt die Welt nicht mehr.
Das mit dem „Knopf im Gehirn“ ist keine übertriebene Metapher, denn Forschende des Department for BioMedical Research (DBMR) der Universität Bern und der Universitätsklinik für Neurologie am Inselspital Bern haben entdeckt, dass Nervenzellen im Thalamus, dem größten Teil des Zwischenhirns, sowohl das Einschlafen als auch das Aufwachen steuern.
Mit brennenden Augen starrt man in die Dunkelheit und überlegt, ob es vernünftig wäre, das Licht wieder anzuschalten. Man spürt, dass an Schlaf – wie schon so so oft – nicht zu denken ist.
Die Gedanken laufen Amok
Ohnmacht keimt in einem auf, denn der Körper ist total erschöpft, aber sämtliche Gedanken laufen Amok, wie eine Horde durchgeknallter Feuerameisen auf Methamphetamin.
„Mist, die Heizölrechnung kommt nächsten Monat, Jörn bekommt eine fünf in der Klassenarbeit, wenn ich nicht einen Nachhilfelehrer engagiere, aber wie bezahlen, muss unbedingt mit der Katze zum Arzt, die sieht krank aus, wie hieß der Typ noch, der mir vor 35 Jahren an einer roten Ampel den Vogel gezeigt hat, jetzt ist Papa schon wieder fünf Jahre tot, ich sollte dieses rote Kleid kaufen, was wenn doch die Reptiloiden die Macht übernehmen auf der Erde?“
Und natürlich – seit ca. 1 Jahr: “Corona”, das allein schon für viele Ängste, Verzweiflung und existenzielle Sorgen verantwortlich zeichnet.
Einfach nur ein Gefühl der Hilflosigkeit
Das Gefühl der Hilflosigkeit wird schlimmer. Man fühlt sich, als schwebe man mitsamt seinem Bett im luftleeren Raum, in einem eiskalten, sternenlosen Vakuum, irgendwo im Nirgendwo.
Von allen Seiten prasseln wie winzige glühende Geschosse uralte Erinnerungsfetzen, Selbstvorwürfe, Selbstzweifel und Verdrängtes auf einen ein. Dinge, mit denen man sich im Wachzustand normalerweise, wenn irgend möglich, nicht beschäftigt, Dinge, die man längst vergessen glaubte, Ängste, Zweifel, ein Stakkato an Ungesagtem, Ungedachtem. Es ist grauenhaft.
An Schlaf ist mittlerweile nicht mehr zu denken. Man überlegt sich, wieder aufzustehen: „Wenn ich es schaffe, in spätestens 60 Minuten einzuschlafen, dann habe ich, bis der Wecker klingelt, ungefähr 6 Stunden. Müsste genügen, um wenigstens über den Arbeitstag zu kommen.“
Tja, falsch gedacht. Wenn man einschlafen MUSS oder unbedingt WILL, klappt es ohnehin nicht. Aber das lernt man mit der Zeit.
Doch lieber morgens um 4:00 Uhr Wäsche sortieren?
„Ich bügle oder sortiere die Wäsche im Schrank“, verriet mir eine Nachbarin. „Auch morgens um 4:00 Uhr. Es bringt nichts, dagegen anzugehen, wenn man es akzeptiert, macht es einen nicht so kaputt.“
Hatten Sie schon mal eine hyperaktive Mücke im Schlafzimmer? Oder eine penetrante Fliege? Die werden meist erst aktiv, nachdem man das Licht ausgeschaltet hat. Man hört sie surren und kuschelt sich erst mal im Bett ein, denn man ist zu faul, um nochmal aufzustehen und eine Fliegenklatsche zu holen. Dann lauscht man einer Weile dem „Iiiiiiiih“ und ärgert sich.
Und irgendwann setzt sich das Miststück auf unsere Nase, denn es ist der einzige Teil, der noch unter der Bettdecke hervorschaut. Einkuscheln hilft nicht.
Das gilt auch für Gedanken, die uns am Einschlafen hindern. Man kriegt sie nicht los, nicht mit Einkuscheln, nicht mit Fliegenspray. Und schon gar nicht mit der Klatsche, denn leider sind sie unzerstörbar. Sie lassen einen nicht in Ruhe und greifen von allen Richtungen an.
Schlafstörungen – es betrifft so viele
Bei mir begannen die Schlafstörungen vor ungefähr 10 Jahren. Erst im Nachhinein erkenne ich, wie glücklich ich vorher gewesen bin. Früher schlief ich durch. Jede Nacht. Sieben bis acht Stunden. Mann, war das schön. Leider vorbei.
Mit diesem Problem befinde ich mich in allerbester Gesellschaft:
Einem Gesundheitsreport der DAK zufolge leidet jeder zehnte Arbeitnehmer (9,4 %) unter schweren Schlafstörungen mit Ein- und Durchschlafstörungen, schlechter Schlafqualität, Tagesmüdigkeit und Erschöpfung. Laut einem Artikel in „planet wissen“ sind es sogar 25 %.
Ich will gar nicht darauf eingehen, wie sehr die Lebensqualität leidet, wie krank Schlafstörungen letztendlich machen, und Ihnen die Adressen von Schlaflaboren in Deutschland auflisten. Wer mit diesem Problem belastet ist, hat ohnehin schon einiges versucht und weiß das alles. Genau wie ich.
Lieber rezeptfreie Tabletten?
„Wenn du nicht pennen kannst, stell dich in die Dusche, richte den kalten Wasser-Strahl auf deine Waden und führe ihn in Richtung Herz bis zum Knie, um die fünf Minuten lang. Ich bin Bademeisterin, ich weiß das“, riet mir meine Freundin Susi.
Natürlich probierte ich es aus. Leider bestand das Ergebnis aus kalten Zehen und einem nassen Schlafanzug, weil ich zu faul gewesen war, die Hose auszuziehen, anstatt sie hochzukrempeln.
„Nimm das hier“, empfahl mir Helga, eine andere Freundin und reichte mir eine kleine Schachtel. „Das hier“ kommt in Kapsel- Dragee- oder Tablettenform daher und beinhaltet normalerweise Lavendel, Baldrian, Hopfen oder andere beruhigende Kräuter. „Das hier“ kann überall rezeptfrei erworben werden.
Ich kaufte ziemlich viel davon. Mit Hopfen, mit Baldrian, mit Johanniskraut, mit Lavendel. Und ich schluckte es, bis die Packungen leer waren. Schlafen tat ich aber nicht.
Weiterhin geisterte ich durchs Haus und schmökerte mich durchs Internet, immer auf der Suche nach einem Rezept gegen meine Schlafstörungen. Tipps gab es tausende. Aber ich hatte ja Zeit, die ganze Nacht. Und die nächste auch. Irgendwann gegen vier Uhr morgens war ich dann meistens kurz davor, Halluzinationen zu kriegen, schleppte mich ins Bett und döste dort vor mich hin.
Auch Kirschkern, Lavendel und Hopfen halfen auf Dauer nicht
An manchen Tagen getraute ich mich nicht mehr hinters Steuer, aus Angst vor Sekundenschlaf. Mein Bewegungsradius wurde kleiner. Meine Lebensqualität auch.
Einmal kaufte ich ein Zirbenkissen, das laut Beschreibung „stimmungsaufhellend, entspannend und reinigend“ wirken sollte. Begeisterte Rezensionen überzeugten mich. Leider funktionierte das nicht mit den Zirben und mir. Ich schlief später übrigens noch auf Leinsamen, Kirschkernen, Lavendel und sogar Hopfen. Zeitweise roch es in meinem Schlafzimmer wie in der Scheune eines Biobauern.
Aber es störte mich nicht, weil ich ohnehin durch die Wohnung irrlichterte. Schlaflos.
Vor gut sieben Jahren lud ich mir eine Hypnose-App herunter, denn mit Hypnose habe ich im wachen Leben sehr gute Erfahrungen gemacht, sogar beim Zahnarzt.
Ob Sie es glauben oder nicht: Das klappte eine Zeitlang recht gut. Allabendlich öffnete ich die App beim Zubettgehen und lauschte der sonoren Männerstimme, wenn sie sagte:
Die Schlaflosigkeit schien so viel stärker als ich zu sein
„Entspannen Sie jetzt die Muskulatur um Ihre Augen, entspannen Sie Ihre Kinnmuskulatur, entspannen Sie ihre Schultern“, und so weiter und so fort. Immer, wenn die Stimme begann, von zehn rückwärts zu zählen, schlummerte ich weg.
Wenn ich morgens dann aufwachte, fühlte ich mich, als hätte ich eine Schlacht gewonnen, denn die Schlaflosigkeit war längst mein Feind geworden. Ich wollte mich von ihr nicht unterkriegen lassen, aber sie schien so viel stärker als ich zu sein.
Nach ungefähr zwei Monaten, in denen ich allabendlich meine Schultern und meine Kinnmuskulatur gelockert hatte, funktionierte es plötzlich nicht mehr. Nichts an meinen Lebensumständen hatte sich geändert, aber ich konnte mich entspannen, so viel ich wollte – es ging nicht.
Wieder eine verlorene Nacht. Und noch eine. Es wollte einfach kein Ende nehmen.
In meiner Not lud ich mir eine andere App herunter, die mir das Zirpen von Grillen und das Quaken von Fröschen anbot. Außerdem konnte ich wählen zwischen „Sommerregen“, „Gewitter“ und „Sturm“. Das klang gut. Leider brachten mich diese Geräusche auf ganz andere Gedanken, ich erinnerte mich wehmütig an vergangene Urlaube im Süden, stand hellwach wieder auf und googelte Fernreisen. Aber einen Versuch war es wert gewesen.
Schlafstörungen sind individuell
Anschließend landete ich im Internet bei diversen Selbsthilfegruppen, las unzählige Fachartikel, alles über Hirnforschung, das ich verstand, stöberte im „Ärzteblatt“ … und stellte fest, dass Schlafstörungen scheinbar so individuell waren wie ein Fingerabdruck.
Beim einen halfen Zirbenkissen, beim anderen Lavendeldragees, der vierte ließ sich allabendlich volllaufen (was für mich nicht in Frage kam), der fünfte kiffte täglich (kam ebenfalls nicht in Frage wegen der Beschaffungskriminalität), und ein anderer dröhnte sich mit beidem zu. DIE schliefen natürlich gut, aber da musste ich passen, denn ich wollte auf legalem Wege pennen.
Mein Hausarzt hielt so gar nichts von Drogen, obwohl ich wahrheitsgemäß sagen muss, dass meine stille Verzweiflung ein Stadium erreicht hatte, in dem ich sogar ein Lamm geopfert hätte, nur um mal wieder eine Woche schlafen zu können.
„Nehmen Sie die“, sagte er und reichte mir mit ernster Miene ein Rezept. „Aber bitte erst schlucken, wenn Sie quasi auf der Bettkante sitzen. Die hauen sogar einen Elefanten um.“
Ich fragte mich, warum ich nicht Tabletten für Gazellen bekam, sondern für Dickhäuter, und nahm beleidigt das Rezept entgegen. Am Abend schluckte ich eine Tablette. Die erste und letzte. Zwar schlief ich wie ein Stein, aber dieser Schlaf war einer Vollnarkose ähnlicher als einem entspannten Zustand.
Bloß keinen harten Stoff!
Vor allem hing ich den gesamten nächsten Tag in den Seilen wie nach fünf Runden mit Mike Tyson. Harter Stoff war nichts für mich, wenn ich noch am gesellschaftlichen Leben teilnehmen wollte.
„Spazieren Sie eine Runde um den Block“, riet mir ein anderer Arzt. „Sie werden sehen, wie gut Ihnen das tut.“
Also machte ich mich abends auf den Weg und irrte in der Dunkelheit durch unser menschenleeres Dorf. Sogar die Katzen hatten sich bereits verkrümelt. Es war kalt, ich fror, und auch das leise Bimmeln einer weit entfernten Kuhglocke hatte nichts Heimeliges an sich.
Bei diesem Spaziergang fand ich heraus, dass ich aufgrund meiner Vorlieben für Gerichtsmediziner- und Thriller-Serien nicht für derartige Unternehmungen geeignet bin, denn ich witterte hinter jedem Busch einen Axtmörder, hörte Geräusche, die mir die Haare zu Berge stehen ließen (Igel?) und legte den Heimweg dann in Rekordgeschwindigkeit zurück.
Vielleicht hilft der Tipp vom Militärarzt?
Zuhause setzte ich gleich noch den zweiten Ratschlag um, bereitete eine heiße Milch mit Honig zu, die mich zum Würgen brachte (ich mag keinen Honig), und ging ins Bett.
Alles wie immer. „Pling“, Augen auf, wach. Wut, Verzweiflung, Ohnmacht.
Irgendwann las ich von einer sensationellen Methode, angeblich das Geheimrezept eines Militärarztes, dem „4-6-8-Atmen“.
“Sie werden nie wieder wach im Bett liegen”, hieß es in dem Zeitungsartikel. Man atmet langsam durch die Nase ein, zählt dabei bis vier, hält die Luft sechs Sekunden an und atmet dann durch den Mund aus, indem man bis acht zählt. Der Mann war immerhin Militärarzt, der musste was draufhaben.
Was soll ich sagen? Sie ahnen es schon. Wut, Ohnmacht, Schlaflosigkeit. Es lag vielleicht daran, dass ich kein Soldat war?
Ob Struktur was bringt?
„Sie brauchen Struktur“, behauptete ein anderer Arzt, den ich in meiner Not konsultiert hatte. „Gehen Sie jeden Tag zur selben Zeit ins Bett, Sie werden merken, dass Sie sich schnell daran gewöhnen.“
DAS war es also, was mir gefehlt hatte. Struktur. Bei all dem sinn- und formlosen Herumlungern vor dem Fernseher hatte sich bei mir scheinbar ein gewisser Schlendrian eingeschlichen. Ich schämte mich, und quälte mich von da an täglich um genau 21:47 Uhr (keine Ahnung warum) vom Sofa hoch.
Struktur. So wichtig.
Meistens stand ich dann nach ungefähr zwei strukturlosen Stunden, während derer ich mich vergeblich um ein Quäntchen Schlaf bemüht hatte, mit zusammengekniffenen Augen im Wohnzimmer und überlegte, ob ich mich gleich vom Balkon stürzen sollte oder später.
Irgendwann schleppte ich mich allabendlich ins Bett, als ginge ich zu meiner eigenen Hinrichtung. Schlaf, egal, wie kurz, war zum Geschenk geworden, zu etwas, das immer nur die anderen kriegten, während man selbst mit dunklen Augenringen und geröteter Bindehaut durch die unendlich zähen Tage irrte, ständig auf der Suche nach einem Mittel, das helfen könnte, endlich Ruhe zu finden.
Ich stand kontinuierlich unter Strom
Meine Verzweiflung wuchs exponenziell. Es gab wenig, das ich noch nicht ausprobiert hatte, und ich fühlte mich, als hätte ich einen Kurzschluss im Gehirn. Irgendein Schalter funktionierte nicht richtig, ich stand kontinuierlich unter Strom, hielt mich für ein preisreduziertes Mängelexemplar und lachte nur noch bitter, wenn andere mir erzählten, dass sie sofort einschliefen.
Mittlerweile kämpfte ich seit 9 Jahren mit meiner Schlaflosigkeit.
Allerdings war ich noch nicht dazu bereit, kampflos aufzugeben. Ich war ein Unikat, vielleicht gab es für mich keine universelle Lösung? Was wussten all die Doktoren und Militär-Ärzte denn? Die kannten mich doch gar nicht.
Zwar ging ich nach wie vor um 21:47 Uhr zu Bett, aber ich ärgerte mich nicht mehr, wenn ich mit brennenden Augen in der Dunkelheit lag, sondern stand einfach auf, nahm mir vor, kein großes Gewese darum zu machen und holte mir eine Tüte Erdnusslocken. Dann setzte ich mich auf die Couch und las so lange Kommentare bei Facebook, bis ich anfing, zu gähnen, putzte ich mir nochmals die Zähne, verschwand im Schlafzimmer – und schaffte es in knapp 60 % aller Fälle tatsächlich, wegzudösen.
Es scheinen Zeitfenster fürs Einschlafen zu existieren
Es fiel mir auf, dass scheinbar Zeitfenster fürs Einschlafen existierten, denn immer, wenn ich den Absprung ins Traumland nicht geschafft hatte, musste ich ungefähr 1,5 Stunden warten, bis sich die Müdigkeit wieder einstellte. Dann las ich irgendwo, dass jeder Mensch pro Nacht ca. 27mal aufwacht, ohne es zu bemerken. Das tröstete mich ein kleines bisschen.
Ein wenig fühlte ich mich wie in Gefangenschaft. Zwar stand ich unter Kuratel dieser geheimnisvollen Macht, die allnächtlich bei mir den Alarmknopf drückte, aber ich plante nach wie vor meinen Ausbruch aus diesem Gefängnis und nahm mir vor, den Wärter irgendwann zu überlisten, wie in einem dieser Filme, wo die Gefangenen den Wärter mit billigen Fusel abfüllen, um ihm den Zellenschlüssel zu klauen.
Immer noch gab es viele Nächte, in denen ich mir Sorgen machte um den Weltfrieden, meine Finanzen, kranke Tiere, jahrzehntealte Kränkungen aus der Vergangenheit und Angst vor der Zukunft, aber ich kam zurecht.
Der Geist war hellwach
Der Zustand war nicht schön, aber besser als vorher, denn wenn ich gähnte, war ich wirklich so müde, dass ich den Wärter austricksen konnte. Es war ja nie der Körper, der hellwach war, sondern mein Geist, der mich nicht schlafen ließ, dieses allezeit neugierige, immer hungrige Ungeheuer, das mich kontrollierte und mir die Ruhe verwehrte.
Es waren diese Millionen abgenutzter und tausendmal gedachter Gedanken, die von allen Seiten auf mich einstürmten. Sie nutzten den Moment der Schwäche, wenn ich, abgeschirmt von sämtlichen Reizen wie Arbeit, hauswirtschaftlichen Tätigkeiten oder Fernsehen, schutzlos im Bett lag, und mich nicht wehren konnte.
„Ich brauche einen Plan“, dachte ich. „Diese ganzen Rezepte mögen anderen helfen, aber für mich selbst sind sie untauglich. Warum gehe ich jeden Tag um dieselbe Zeit ins Bett, wenn ich gar nicht müde bin?“
Also gab ich zuallererst die „Struktur“ wieder auf und wartete so lange mit dem Schlafengehen, bis ich laut und vernehmlich gähnen musste. Da mir allmählich bewusst geworden war, dass mein Problem nicht auf der körperlichen, sondern auf der mentalen Ebene lag, musste ich mein Gehirn beschäftigen, denn es schien keine Pause zu brauchen, im Gegensatz zu meinem Körper.
Jeden Abend legte ich mich ins Bett, fest entschlossen, mich nicht aufs Einschlafen zu versteifen. Ich las Leserkommentare in Zeitungen und bei Facebook, bis mir sprichwörtlich die Augen zufielen, schaltete das Licht ein und… schlief. Meistens.
Aber das genügte nicht. Mein Gehirn machte immer noch viel zu oft „Pling“ und versetzte mich in Alarmzustand. Es brauchte Ablenkung, sonst würde es mich weiter mit alten Kamellen und jungen Sorgen bombardieren.
Das Fliegeralphabeth wurde auswendig gelernt
Also lernte ich das Fliegeralphabeth auswendig. Sie hören Teile davon manchmal in Filmen, wenn Piloten ihre Kennzeichnung am Funkgerät durchgeben. Es war leicht: „Alpha, Bravo, Charlie, Delta“, und so weiter. Innerhalb kürzester Zeit konnte ich es auswendig, und ich fühlte mich, als wäre ich Knast-Insasse, und jemand hätte mir eine Nagelfeile in einem Kuchen in die Zelle geschmuggelt. Ich hatte eine Waffe, wenn auch eine ganz kleine.
Als ich an diesem Abend ins Bett ging, war alles wie es sein sollte: Gerade hatte ich unten im Wohnzimmer laut und vernehmlich gegähnt, mein Körper war müde, also “ready for takeoff”.
Im Bett zwang ich mich halbherzig, ein paar Kommentare über Herzogin Meghan und ihren Harry zu lesen. Als ich bemerkte, wie meine Augen zufielen, löschte ich das Licht, schaltete mein Handy aus und sank in die Kissen.
Es war herrlich. So müde. Mein Gehirn schien nicht mehr richtig zu funktionieren, denn ich begann bereits, in den Schlaf hinüberzugleiten.
Wieder hellwach…
Dann kam das „Ping“. Ich hatte es erwartet. Was auch immer hatte wieder den Alarmknopf gedrückt. Und ich bemerkte, wie ich hellwach war, von einer Sekunde auf die andere.
„Diesmal nicht“, sagte ich entschlossen in die Dunkelheit. „Ich stehe heute nicht auf. Und ich gehe nicht nach unten. Wollen wir doch mal sehen. Alpha, Bravo, Charlie, Delta…“.
Und dann sagte ich das komplette Fliegeralphabeth in Gedanken auf. Und nochmal. Und nochmal. Beim fünften Mal fiel mir „K“ wie „Kilo“ nicht mehr ein, also begann ich von vorn. Und schlief ein. Endlich.
Ich hatte gewonnen. Mit meiner winzigen Feile.
Das ist jetzt ziemlich genau elf Monate her. Meine gravierenden Einschlafstörungen sind zu 90 % verschwunden, obwohl ich sie wohl niemals gänzlich losbekommen werde.
Es gibt nichts Schöneres für mich, als morgens auf die Uhr zu sehen und zu sagen: „Wow, ich habe tatsächlich 8 Stunden geschlafen.“ Ich kann es immer noch nicht glauben.
Wird auch bei Ihnen jede Nacht der fiese Knopf gedrückt?
In den letzten elf Monaten bin ich genau ein einziges Mal aufgestanden, um die Tüte mit den Erdnusslocken zu holen und mich mit Zeitungsartikeln abzulenken. Ich halte das für einen großen Gewinn und habe meine Geschichte heute für Sie aufgeschrieben, weil bei Ihnen vielleicht auch jede Nacht dieser fiese Knopf gedrückt wird.
Weil sie sich vielleicht schon damit ab gefunden haben, sich jede Nacht im Bett zu wälzen.
Es muss ja nicht das Flieger-Alphabet sein, das bei Ihnen funktioniert. Aber es gibt bei jedem menschlichen Gehirn etwas, das es so beschäftigt, dass der permanente Alarm Zustand endet und seine Wachsamkeit nachlässt.
Sollte der Arzt alle organischen Ursachen ausgeschlossen haben, dann kämpfenSie vermutlich mit Ihrem Geist, genau wie ich. Auch Ihrer ist nimmermüde, gelegentlich etwas boshaft, und sehr effizient.
Hören Sie in sich hinein. Die Lösung liegt in Ihnen. Auch wenn Sie kein Geld haben und deshalb keine Ruhe finden, eine Nacht wach im Bett zu liegen, ändert an diesem bedauernswerten Zustand gar nichts.
Probleme angehen nur im ausgeschlafenen Zustand
Im Gegenteil: Sie können besser Ihre Probleme angehen, wenn Sie ausgeschlafen sind.
Lenken Sie das Biest in Ihrem Kopf ab, egal ob mit „Minecraft“, den „Golden Girls“ oder dem Morsealphabeth. Seien Sie kreativ. Überlegen Sie, womit Sie Ihr Gedankenkarussell austricksen können.
Tabletten sind nicht immer die beste Lösung.
SIE haben die Kraft dazu. Es ist IHR Gehirn. SIE sind der Boss, und Sie können diesen renitenten Untergebenen überlisten, wenn man ihn schon nicht feuern oder strafversetzen kann.
Ich fände es schön, wenn sie es wenigstens versuchen, Sie haben es sich verdient.
Ich wünsche Ihnen von Herzen angenehme Träume, einen guten Schlaf, besinnliche Weihnachten und einen guten Rutsch ins neue Jahr.
Herzlichst,
Ihre Barbara Edelmann
Quellen:
Artikel aus „VBIO – Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland vom 12.06.2018
“Planet Wissen”
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