Neulich las ich in einem Online-Magazin, dass jeder Mensch angeblich täglich im Schnitt ca. 200 Mal lügt. Das übertraf meine kühnsten Erwartungen. Also recherchierte ich im Internet und fand diese Aussage mehr oder weniger bestätigt. Die meisten von uns lügen. Oft.
Das ist kaum zu glauben, wo man uns doch von Kindesbeinen an beibringt, dass die Wahrheit adelt. Aber dann dachte ich darüber nach, wie oft ich selbst schon geschwindelt hatte – um des lieben Friedens willen, um jemanden nicht zu kränken oder aus Bequemlichkeit.
Also fasste ich den Entschluss, einen ganzen Tag lang die Wahrheit zu sagen, nichts als die Wahrheit.
Ich bin ein Mensch, der grundsätzlich ausführt, was er sich vornimmt. Um es mir nicht allzu schwer zu machen, wählte ich für mein Experiment einen Sonntag. An einem normalen Arbeitstag wäre ich nämlich untergegangen und säße jetzt vermutlich gemobbt, gehasst und arbeitslos zuhause.
Sonntag war praktisch. Ich musste dem Boss nicht beteuern, dass die wichtigen Unterlagen schon ewig unterwegs waren. Ich musste dem jungen Mann vom indischen Call-Center nicht erklären, dass mir seine Anrufe und die seiner Kollegen aus der ganzen Welt tierisch auf den Senkel gehen.
Darum war der Sonntag klug gewählt. Um die Kollateralschäden so klein wie möglich zu halten, ging ich sicherheitshalber auch nicht ans Telefon, als meine Bekannte Marianne anrief. Sonst hätte ich ihr wahrheitsgemäß erklären müssen: „Ja, du störst, wie eigentlich immer seit 10 Jahren, weil dir meine Nummer nur einfällt, wenn es dir schlecht geht.“
Auf dem Weg zur Kirche fragte der Nachbar, ob mich sein Laub in meinem Teich ärgern würde. „Es ist Herbst, da bläst der Wind“ antwortete ich und kam mir vor wie Konfuzius persönlich. Oder Yoda. Nicht gelogen war das. Es nervt tatsächlich, dass ich wöchentlich mit dem Netz so viele Blätter aus dem Wasser fischen muss. Aber ich musste wenigstens nicht lügen. Es war, als würde man beim Zweikampf einen Ausfallschritt machen, um nicht mit dem Kämpfer der Gegenseite zusammenzustoßen.
„Wie fanden Sie die Predigt?“ wollte der Pfarrer am Ende des Gottesdienstes wissen, als er beim Verlassen der Kirche jedem Besucher die Hand schüttelte.
„Interessant“ antwortete ich.
Die Predigt war auch interessant gewesen – dieses Wort passt beinahe immer, vor allem dann, wenn man nicht sagen möchte: „Schon wieder Tod und Verderben heute? Da wird man ja trübsinnig, Herr Pfarrer.“ Ich hatte klug reagiert, finde ich.
„Gefällt dir unser neuer Wintergarten?“ wollte meine Schwester wissen, als ich ihr ein paar Tupperdosen zurückbrachte.
„Interessant“ wich ich geschickt aus. Das Ding sieht zwar aus wie ein quadratischer Brutkasten, ein Würfel aus Glasscheiben, Stahlstreben und Holz. Aber interessant ist es wirklich, wie Architekten es schaffen, einem so eine Monstrosität als Ergänzung für das Eigenheim zu verkaufen.
Bei einer lieben älteren Bekannten war ich gegen 16:00 Uhr zum Kaffee eingeladen. Sie wird nächstes Jahr 80. Liebevoll legte sie mir ein riesiges Stück Marmorkuchen auf den Teller, das schon beim Kontakt mit dem Porzellan ein merkwürdiges Geräusch machte, es hörte sich an wie hohles „Klack“.
Nach dem ersten Bissen balancierte ich gekonnt so diskret wie möglich einzelne Stücke mit der Kuchengabel in den Kaffee, um sie genießbar zu machen, aber sie sogen sich nicht richtig voll. Außerdem hatte meine Gastgeberin den Zucker beim Backen vergessen.
„Schmeckt er dir?“ fragte sie misstrauisch.
„Intereschant“ nuschelte ich und tunkte ein besonders großes Stück in die braune, dünne Brühe, die schmeckte wie der dritte Aufguss. Auf dem Tassenboden konnte man das Wasserzeichen erkennen.
Wieder kam ich mit dem Wort „interessant“ davon. Ich kann es weiterempfehlen. Außerdem finde ich es ja wirklich spannend, wie man aus Mehl, Butter, Backpulver und Eiern (den Zucker hatte sie wie erwähnt vergessen) Gebäck mit der Konsistenz von Trockenbeton herzustellen vermag.
Aber ich fürchte, sie hat mir nicht geglaubt.
„Hat’s Ihnen geschmeckt?“ fragte die Bedienung schließlich gestern Abend, als wir beim Essen waren, und musterte meinen halbvollen Teller skeptisch. Mir war klar, dass ich mit „interessant“ nicht durchkommen würde, denn der Koch hätte das vielleicht falsch aufgefasst.
„Oh, so spät schon!“ rief ich und warf einen entsetzten Blick auf meine Uhr. „Darf ich bitte bezahlen?“
Ich habe keine Ahnung, weshalb ich das immer frage. Warum sollte ich nicht bezahlen dürfen? Noch nie hat eine Servicekraft „nein“ gesagt. Aber sie nickte und huschte zur Theke, um die Rechnung zu holen. Das war knapp gewesen.
Den Rest des Abends durfte ich dann mit dem einzigen Menschen auf der Welt verbringen, dem ich so gut wie immer die Wahrheit sage. Fast immer. Naja, meistens. Beinahe ausschließlich. Wenn es irgendwie geht: Meinem Mann. Keine weiteren Vorkommnisse.
Danach lag ich im Bett und grübelte über ein paar Fragen nach, deren wahrheitsgemäße Beantwortung oft nicht ganz einfach ist. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass nette Lügen nur allzu gern geglaubt werden. Unwahrheiten bleiben sie aber trotzdem. Die Wahrheit ist oft ein schwerverdaulicher Brocken, so etwas wie der Marmorkuchen meiner betagten Bekannten: schwer zu schlucken.
Ich stellte mir vor, wie es wohl wäre, wenn man mal einen Tag lang so richtig ehrlich wäre. Gemein ehrlich.
Im Büro: „Ja, Chef, logisch habe ich die Belege an die Firma Weizenkeim schon weitergeleitet. Was sagen Sie? Überstunden? Die ganze Woche? Klar, gerne, ich lebe für die Firma.“
Wahrheit: „Der Weizenkeim von ‚Weizenkeim & Söhne‘ soll sich nicht so anstellen wegen dem bisschen Papier. Die sind ohnehin fast pleite, und seine Frau geht mit dem Poolreiniger fremd, habe ich gehört. Ich wette, der hat grade ganz andere Sorgen als die Belege von mir. Und wegen der Überstunden: Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich scharf darauf bin, noch zwei Stunden länger täglich in diesem Affenstall zu sitzen, von Toner-Feinstaub und Sporen aus der Klimaanlage umschmeichelt? Aber mir wird wohl nichts anderes übrigbleiben, sonst werfen Sie mich raus.
Beim Boss: „Entschuldigung, dass ich so spät komme! Erst wurde der Pudel meiner Nachbarin vom Cousin des Bruders ihres Freundes überfahren, und ich musste den Hund zum Tierarzt bringen, aber leider mit dem Fahrrad, denn mein Auto hatte einen Platten, weil heute Nacht Killerbienen mein Dorf überfallen und hunderte Löcher in die Reifen gestochen haben. Als der Pudel operiert war, erwischte ich den Bus nicht mehr und musste per Anhalter zur Arbeit fahren. Dabei wurde ich von guatemaltekischen Bauarbeitern entführt, die mit mir ihren Anführer aus einem Gulag freipressen wollten und erst nach zwei Stunden feststellten, dass mich in Russland kein Schwein kennt. Dann haben sie mich wieder ausgesetzt und jetzt bin ich hier. Diesen halben Tag muss ich jetzt aber hoffentlich nicht reinarbeiten, oder? Ist ja höhere Gewalt, so eine Entführung.“
Wahrheit: Ich war gestern besoffen wie eine Haubitze, weil wir Hans-Rüdigers Geburtstag im „Zornigen Lindwurm“ mit ein paar Hektolitern Bier gefeiert haben, und bin mit dem Gesicht in einem Blumenkübel vor der Kneipe auf Knien eingeschlafen, aber heute Morgen um 4:50 gottseidank rechtzeitig aufgewacht, ehe mich die Müllabfuhr aufladen konnte. Dann versuchte ich, nach Hause zu laufen, tastete mich um eine Litfaß-Säule herum und dachte, ich sei eingemauert. Es hat eine Stunde gedauert, bis ich bemerkte, dass ich weitergehen konnte. Endlich daheim, musste ich mit dem Schlüssel in der Hand eine Zeitlang warten, bis mein Haus vorbeikommt, weil ich zu betrunken war, um das Schüsselloch zu finden und sich die ganze Straße um mich gedreht hat. Aber immerhin bin ich zumindest frisch geduscht. Glaube ich wenigstens. Arbeite ich eigentlich überhaupt hier?
Der Kollegin mit dem neuen Outfit: „Das sieht wirklich super an dir aus, du kannst alles tragen, Vanessa. Trau dich ruhig öfter mal, nein, das ist nicht zu gewagt.“
Wahrheit: Vanessa sieht in dem neonroten Etuikleid mit den Overknee-Stiefeln aus wie eine Presswurst, die anschaffen geht. Außerdem ist das in ihrem Gesicht kein Make-Up, sondern Bauernmalerei, vermutlich klopft sie das Zeug allabendlich mit dem Spachtel ab. Sobald man ihr aber mitteilt, dass sie klugerweise ihre Klamotten zukünftig mindestens drei Nummern größer kaufen sollte und beim Lidschatten weniger mehr ist, redet sie wieder vier Wochen lang nichts mit mir. Was schlecht wäre, da ich sie schon als Urlaubsvertretung eingetragen habe. Soll sie doch rumlaufen, wie sie möchte.
Der hochschwangeren Freundin: „Nein, leider kann ich zu deiner Babyparty nicht kommen, Claudia, ich glaube, ich hab‘ mir was geholt und möchte dich nicht anstecken.“
Wahrheit: Klar hab‘ ich mir was geholt – eine Tiefkühlpizza, Erdnusslocken und einen Eimer Schokoladeneis mit Nuss-Splittern. Bei Netflix sind nämlich neue Folgen meiner Lieblingsserie rausgekommen, und wenn du denkst, dass ich lieber freiwillig mit einem Haufen kichernder Weiber zusammensitze, um bei jedem pinkfarbenen Lätzchen in entzücktes Kreischen auszubrechen, statt in Jogginghosen auf der Couch fernzusehen, hast du dich geschnitten. Lad mich zur Konfirmation ein oder wenn das Kind stubenrein ist. Bis dahin dürfte ich mit meiner Watchlist durch sein.
Dem Bekannten in der Fußgängerzone: „Wie es mir geht, Klaus? Spitze, einfach nur super.“
Wahrheit: Neulich wurde beim Arzt jede meiner Körperöffnungen mittels monströser und geheimnisvoller Instrumente sondiert, weil ich immer aufstoßen muss, wenn ich Udo Lindenberg im Fernsehen sehe. Außerdem hat man mir einen halber Liter Blut abgezapft, um mich auf Maul- und Klauenseuche, Kolbenfresser oder Beulenpest zu checken. Meine Freundin hat mich verlassen, mein Herpes ist an einer unaussprechlichen Stelle wieder aufgetaucht, und vorhin habe ich auf der Autobahn einen halben Meter meines Auspuffs verloren und dafür einen Strafzettel in Höhe des Brutto-Inlandproduktes von Bolivien kassiert. Meine Arterien sind laut meiner Cholesterinwerte verstopft wie der Gotthardt-Tunnel zu Ferienbeginn, und die Aktien, die ich mir auf Anraten meines geschniegelten, anzugtragenden Bankberaters gekauft habe, haben über Nacht 90 % ihres Nennwerts verloren. Helene Fischer antwortete nicht auf meine Bitte nach einem Nacktfoto und ich bin so pleite wie Venezuela. Mindestens.
Aber wenn ich dir Waschweib das erzähle, könnte ich mich genauso gut mit einem Megaphon auf den Marktplatz stellen und es fremden Leuten ins Ohr brüllen oder Flyer im ICE verteilen, du Tratsche. Also behaupte ich dreist das Gegenteil und hoffe, dass du meine untertassengroßen Augenringe und die weiße Stelle am Ringerfinger übersiehst. Dass ich pleite bin, wirst du schon merken, wenn ich meine Schulden an dich nicht zurückzahle.
Dem Bekannten bei einer Einladung ins Kino: „The Fast & the Furious, Teil 14? Da muss ich erst noch in meinem Terminkalender nachsehen, ich hab‘ grad so extrem viel um die Ohren. Irgendwas war da an dem Tag, es fällt mir nur gerade nicht ein. Ich melde mich per Whats App.“
Wahrheit: Das glaubst auch nur du, dass ich mich in ein voll besetztes Schachtelkino mit wildfremden zweibeinigen Bakterienschleudern setze, die neben mir alles vollrotzen, röchelnd während des gesamten Films husten, klebriges Popcorn auf meinem Schoß verteilen, mit dem Handy am Ohr den Film kommentieren oder mir ständig ins Kreuz treten, wenn sie hinter mir sitzen. Außerdem hab ich noch 68 Blockbuster auf meiner Watchlist, eine neue Heimkino-Soundanlage mir Presslufthammer-Effekt für Action-Streifen sowie ein gemütliches Sofa mit eingebautem Erdnuss-Fach, Getränkehalter und Massageköpfen in der Rückenlehne. Ich kann meine eigene Toilette benutzen und brauche nicht durch einen halben Meter nasses Klopapier auf dem Boden zu waten, bis ich die Schüssel erreiche, wenn ich mitten im Film mal raus muss.
Das wird nix, und mit einer Whats-App, die ich dir morgen schicke, kann ich mich prima rauswinden. Anschließend blockiere ich dich für 4 Wochen, bis du nicht mehr sauer auf mich bist.
Im Bekleidungsgeschäft: „Also, ich finde das Kleid ganz hübsch. Aber da muss ich ein wenig darüber nachdenken, ob das wirklich zu mir passt. Ich sehe mich noch ein wenig um da hinten. Bei den BHs aus Nato-Draht.“
Wahrheit: Diesen gruseligen Lappen in Amöbenform mit Kunstpelz an strategisch unwichtigen Stellen kannst du verkaufen, wem du willst. Darin sehe ich ja aus wie eine Kreuzung aus Hulk und dem Bigfoot. Außerdem sind 228,94 Euro ein bisschen viel für zwei Pfund Polyester mit Strass, Pailletten und Plastikfell. In dem Teil werde ich garantiert auf der Straße mit einer Pinhata verwechselt, und irgendjemand wird versuchen, Süßigkeiten aus mir herauszuklopfen mit einem Baseballschläger. Da ich dich aber nicht loskriege, weil du schon eine halbe Stunde lang wie ein ausgehungerter Geier hinter den Funktionsjacken gelauert hast, lüge ich dich an und behaupte, dass ich wiederkomme. Wir wissen beide, dass das nicht stimmt.
Beim Kundendienst: „Natürlich habe ich den Toaster immer absolut pfleglich behandelt, als wäre er ein Neugeborenes, glauben Sie mir. Plötzlich sind aber die Funken geflogen, im ganzen Haus war die Sicherung raus, und ich habe einen Stromschlag bekommen. Ich fürchte, ich muss Ihre Firma wegen Körperverletzung verklagen, wenn Sie mir das Gerät nicht ersetzen. Immerhin handelt es sich um einen Garantiefall.“
Wahrheit: Ich kann doch nicht eingestehen, dass mein schwarzer Kater stinksauer auf mich war, weil ich das falsche Futter gekauft habe, und deshalb auf mein Käse-Sandwich gepinkelt hat, als es gerade im Toaster röstete. Außerdem habe ich das Gerät anschließend komplett auseinandergebaut, alle Teile gespült und mit dem Föhn getrocknet und dann wieder zusammengesetzt. Die übriggebliebenen Schrauben schicke ich Ihnen in einem eigenen Beutel mit. Keine Sorge. Aber wehe, Sie machen keinen Garantiefall draus – ich kenne meine Rechte.
Beim Arzt auf die Frage, wie viele Zigaretten man täglich raucht: „Höchstens 10 Stück, vielleicht mal 11. Ich schwöre.“
Wahrheit: Ich glaube, früher, im analogen Zeitalter, waren die Ärzte nicht so penetrant, Herr Doktor. Schon mal was von der DSVGO gehört? Und das wollen Sie vielleicht sogar noch aufschreiben? Wer sieht das dann alles, etwa Ihre sämtlichen Sprechstundenhilfen? Kriegt das auch die Krankenkasse? Was ist mit dem Datenschutz? Ich rufe Heiko Maas an und beschwere mich, wenn Sie das machen. Klar rauche ich drei Schachteln Kippen täglich, sogar im Schlaf, in der Badewanne und während des Geschlechtsverkehrs. Bin eben ein nervöser Typ. Zur Not rauche ich auch die Füllung meines Sofas oder das Heu aus dem Meerschweinchen-Käfig, wenn ich am Monatsende pleite bin. Aber das kann ich Ihnen gegenüber auf keinen Fall zugeben, sonst verlangen Sie am Ende noch, dass ich damit aufhöre.
Beim Tierarzt: „Nein, so was kriegt der von mir nicht. Ich kenne mich aus, ich hab seit Jahrzehnten Tiere!“
Wahrheit: Meine Güte, gucken Sie mich doch nicht so ernst an, Herr Doktor. Klar hat mein Lieblingskater erst neulich ein Viertelpfund Butter geklaut und auf einen Rutsch runtergeschlungen – samt der Alufolie, aber das kommt doch nach einem Tag wieder raus, oder? Sogar viel schneller, wegen der vielen Butter, weil es gut rutscht. Außerdem wissen Sie gar nicht, wie treuherzig der schauen kann, wenn er was möchte, dem würden Sie auch was geben. Am liebsten mag er Marzipan, das rollt er mit seinen niedlichen Pfötchen zu einem Knödel und spielt erst mal damit. Kuchen? Wer hat gesagt, dass ich für meinen Kater Kuchen backe? Ich selbst? Na gut, aber das war nur einmal. Zweimal. Ok – er kriegt jede Woche einen. Sie würden das auch machen, wenn Sie so einen Hutschi-Gutschi-Knuddel-Muddel hätten.
Außerdem hab ich neulich von einem Hund gelesen, der jeden Tag 5 Zigaretten frisst, das Nikotin BRAUCHT der, sonst geht der ein. Ich finde, das ist schlimmer als ein bisschen Nougat oder Marmelade. Ich bin ein sehr verantwortungsbewusster Tierhalter, immerhin kriegt meine Katze keine Kippen. Da können sich andere eine Scheibe von meinem Verhalten abschneiden.
Beim Geburtstag des Großneffen: „Du weißt ja, wie es finanziell bei mir aussieht, darum gibt es nur eine Kleinigkeit, Andreas. Ach, das Leben ist so teuer geworden, kennst du ja selbst. Diese Hose hab ich jetzt schon 20 Jahre. Die hält noch mal 10.“
Wahrheit: Du undankbares Balg hast in den letzten 10 Jahren kontinuierlich jeden meiner Geburtstage vergessen. Wenn du denkst, dass ich dir mehr als 5 Euro ins Kuvert lege, hast du dich geschnitten. Klar habe ich Geld wie Dreck, aber es ist mein Dreck, nicht deiner. Leute, die mir nicht gratulieren oder sich nur zum Schnorren bei mir blicken lassen, kriegen ein paar warme Worte. Oder kalte. Für so was verschwende ich keine Energie – die kostet schließlich ein Vermögen. Übrigens erbst du von mir nur das, was du siehst, wenn du die Augen schließt: nichts. Stell dich gleich mal drauf ein. Nur schade, dass ich dein doofes Gesicht bei der Testaments-Eröffnung nicht sehen kann.
Und jetzt mach dich vom Acker, es ist 17:00 Uhr, und ich möchte mir gern wie jeden Tag um diese Zeit eine Zigarre an einem 200-Euro-Schein anzünden.
Zur guten Freundin: „Also Laura, du brauchst doch keine Falten-Unterspritzung, du siehst 10 Jahre jünger aus als du bist.“
Wahrheit: Von wegen. Deine Mundpartie hat die optische Beschaffenheit von Seersucker-Bettwäsche, und deine Krähenfüße reichen mittlerweile bis ans Kinn. Da kannst du beim Hautarzt gleich Collagen im praktischen 30-Liter-Fass bestellen. Aber du warst ja früher immer zu knickerig, dir mal ein Fläschchen Oil of Olaz zu leisten, du Geizkrägin.
Mach dir einfach einen straffen Pferdeschwanz, vielleicht zieht es die Haut nach hinten. Warum glaubst du den Scheiß eigentlich, den ich dir erzähle von wegen, du siehst viel jünger aus? Hast du keinen Spiegel?
Was guckst du denn jetzt so sauer? Das geht aber schon noch klar, dass du meinen Hund fütterst, wenn ich demnächst vier Wochen nach Neuseeland fliege, oder?
Bei der Polizeikontrolle: „Herr Wachtmeister, ich hab‘ allerhöchstens ein Bier getrunken. Schauen Sie mich an. Können diese Augen lügen?“
Wahrheit: Beweist mir erst mal die 14 Korn und 8 Bier in der Pilsbar vorhin, ihr Superbullen. Ich bin nämlich durch jahrelange Übung gestählter Kampftrinker und laufe auch mit 3,6 Promille noch kerzengerade auf einer weißen durchgezogenen Linie völlig aufrecht und ohne zu schwanken. Oh, so ein Mist, jetzt habe ich mir die Nase an diesem überfahrenen Igel zerstochen. Wieso liegt auf deutschen Straßen so viel Müll rum? Helfen Sie mir sofort hoch, sonst verklage ich Sie alle!
Beim Ehemann: „Das war runtergesetzt und viel billiger, Schatz.“
Wahrheit: Dieser Designer-Fetzen kostet so viel wie der Gebrauchtwagen meiner Nachbarin, aber das wirst du nie herausfinden, weil ich den Kassenzettel unter der Angora-Unterwäsche von Oma versteckt habe und du außerdem keine Ahnung von Haute Couture hast, du Depp. Außerdem tue ich das nur für dich, Süßer. Und die Wahrheit würde dich nur verunsichern. Nein, Heinz-Rüdiger – zu viel Handtaschen oder Schuhe gibt es nicht. Das ist ein urbanes Märchen. Nächstes Mal hebe ich den Kassenzettel auf, klar. Versprochen.
Zur Not lasse ich mir einen fälschen.
Nochmal zum Ehemann: „Ich hoffe, es schmeckt dir, Schatzi, hat viel Arbeit gemacht und ist mit Liebe zubereitet.“
Wahrheit: Es hat viel Arbeit gemacht, an der Tiefkühl-Theke im Supermarkt die Fotos auf den Verpackungen der Fertiggerichte eingehend in Augenschein zu nehmen. Das Zeug muss ja so authentisch wie möglich aussehen, damit ich es dir als von mir selbst zubereitete Mahlzeit unterjubeln kann. Hilfreich ist dabei, dass ich dir alles so lieblos auf den Teller knalle, als wäre ich dafür eine Stunde am Herd gestanden und jetzt total erschöpft.
Außerdem habe ich dir noch nie was Abgelaufenes untergejubelt. Wenn das nicht Liebe ist.
Am eigenen Geburtstag: „Das hab ich mir schon immer gewünscht, vielen Dank!“
Wahrheit: Ja, genau. Das habe ich mir immer gewünscht: noch eine schiefe Blumenvase in knalligem Pink oder ein Plastik-Bilderrahmen mit einer Biene drauf und einem Brustbild von dir. Welchen Grund sollte ich haben, diesen Kitsch auf meiner Anrichte zu platzieren, damit ich dein dämliches Grinsen täglich sehe? Aber gut – immer noch besser als der Gutschein für 10 Minuten Fußmassage vom letzten Jahr oder die Einladung zum Abendessen, die sich als Veggie-Burger mit mittleren Pommes bei McDonalds entpuppt hat.
Das Essen war ich wenigstens am nächsten Tag wieder los. Wohin ich allmählich die ganzen Staubfänger stellen kann, mit denen ich jährlich von dir beglückt werde, muss ich noch herausfinden. Das wollten sie nicht mal im Wertstoffhof.
Sie sehen also: Meine boshafte – leider durch Lebenserfahrung angereicherte – Phantasie kennt keine Grenzen. Trotzdem wäre es sinnvoll, sich gelegentlich mit dem Prinzip von Lüge und Wahrheit auseinanderzusetzen. Und sich nicht selbst dabei zu belügen.
Ich persönlich habe mir vorgenommen, keine falschen Komplimente mehr zu verteilen, wenn ich gefragt werde, wie ein gewisses Kleidungsstück an gewissen Personen aussieht. Das wird schwerer, als es sich anhört, da bin ich mir sicher. Aber Lügen ist auch immer ein bisschen Feigheit. Die Wahrheit sollte nur dann taktvoll umschrieben werden, wenn sie zu sehr kränken würde. Denn man gewöhnt sich so schnell an alles. Auch an 200 Lügen täglich. Denken Sie mal drüber nach.
Und jetzt wünsche ich Ihnen eine wunderschöne Woche. Ganz im Ernst. Wirklich wahr. Was? Das dürfen Sie ruhig glauben. Ehrlich.
Herzlichst,
Ihre Barbara Edelmann
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