Im September 2016 unternahm ich mit meinem Verein (einem Zusammenschluss von Cineasten und Serienjunkies) einen zweitägigen Ausflug in die UFA-Studios in Babelsberg – eine Tour, die ich jedem Filmbegeisterten nur empfehlen kann. Wir verbrachten dort eine herrliche Zeit und hatten eine Menge Spaß. In einem Anflug von Übermut besuchte ich eine Stunde vor unserer geplanten Abreise noch schnell auf dem UFA-Gelände das Studio einer professionellen Maskenbildnerin, die Touristen zu einem moderaten Preis meisterhaft schminkte. Schon am Eingang war eben ein gruseliger Vampir an mir vorbeigehuscht, was mich schwer beeindruckt hatte.
„Was möchten Sie als Make-Up? Eine Eisprinzessin? Oder vielleicht Vulkanier-Ohren und Augenbrauen wie Mister Spock?“, schlug die hübsche Dame vor. „Ich hätte gern einen Kopfschuss“, antwortete ich. Das mag jetzt etwas merkwürdig anmuten, und ich weiß auch nicht genau, was mich ritt, aber ich fand es an diesem Tag witzig. Vielleicht habe ich einmal zu oft „Der Pate“ geguckt. Außerdem stand „Kopfschuss“ auf der Preisliste und war nicht allzu teuer.
Mit aufgeschminkter Kopfschusswunde in der Raststätte
Schon nach ungefähr 15 Minuten verließ ich mit einem ansehnlichen, realistisch wirkenden Einschussloch mitten auf der Stirn das Studio wieder, während am Auto schon meine Freunde ungeduldig warteten und mich mit lautem Hallo begrüßten. Potsdam liegt 648 Kilometer von meinem Wohnort entfernt, eine anstrengende Fahrt, die wesentlich länger dauerte als die im Routenplaner angegebenen sechseinhalb Stunden. Wir waren zu acht und tranken viel, deshalb mussten wir auf der Heimreise einige Male an Raststätten Pause machen.
Überall marschierte ich mit meinem Einschussloch über der Nasenwurzel hinein, stöberte in Zeitschriften-Ecken, gönnte mir Kaffee im Bistro, benützte die jeweiligen Toiletten… und wurde kein einziges Mal angesprochen. Wirklich kein einziges Mal. Jeder sah betreten weg.
Eigentlich hätte ich erwartet, dass mich jemand vorsichtig am Ärmel berührt und fragt: „Äh, alles in Ordnung bei Ihnen? Sie haben da was am Kopf. Tut das nicht weh?“
Nein. Schweigen im Walde. Ich war, nur durch einen Klacks realistisch aufgetragene Schminke, zum „Problem anderer Leute“ geworden („Geht alle an, nur nicht mich!“), zu etwas, das man tunlichst ignoriert. Dass jeder nur dachte: „Die kann ja laufen, der fehlt schon nichts“, kann ich mir offen gestanden nicht vorstellen. Es war wohl eher die vage Ahnung, ich könne mich zu einem Ärgernis entwickeln und sie ihre wertvolle Zeit kosten.
Reaktionen? Ignoranz!
Raststätten sind eigentlich Orte der Begegnung. Verschiedene Menschen aus aller Herren Länder hasten aneinander vorbei und rasen schnellstmöglich weiter zu ihren jeweiligen Destinationen. Aber sämtliche Leute, die mir an diesem Tag begegneten, ignorierten mich nach Kräften. Es fühlte sich an, als trüge ich eine Tarnkappe. Das habe ich bisher noch nicht mal ungeschminkt und in grauen Klamotten geschafft.
Am Abend – endlich wieder zuhause – entfernte ich die perfekt geschminkte Schussverletzung mit einem wehmütigen Seufzer, denn so gut war meine Idee scheinbar doch nicht gewesen, wenn sie mich quasi zu einer Unperson gemacht hatte. Ich habe einfach eine viel zu makabre Phantasie.
Aber über die Menschen in den Raststätten, ihre nicht erfolgte Reaktion, das betretene Schweigen, die ausweichenden Blicke mache ich mir offen gestanden heute noch Gedanken. Weil ich selbst niemals wegsehe. Weil ich jemanden mit so einem auffälligen Verletzungsmerkmal auf der Stirn angesprochen hätte, um mich zu vergewissern, dass alles in Ordnung ist.
Heute früh nun las ich in der Hamburger Morgenpost: „Obdachloser in Hamburg fast erfroren – Fußgänger ignorierten ihn“. Sie denken, man könne die rücksichtslose Gleichgültigkeit gegenüber diesem armen Menschen und das Wegsehen bei meiner „Kopfverletzung“ nicht vergleichen? Ich glaube doch, denn beides hat mit Nichtachtung zu tun. Mit dem Wunsch, nicht wissen zu wollen, keinen Ärger zu bekommen, nicht in seinem Rhythmus gestört zu werden. Mit Ignoranz, mit Egoismus, mit Verachtung einfachster Grundregeln des täglichen Miteinanders.
Und mit jener Fahrlässigkeit, die entsteht, wenn man so schnell lebt, dass man sich aus Versehen gelegentlich selbst überholt.
Unerwartete Probleme als Störfaktor
Der bemitleidenswerte Obdachlose und ich, wir waren schlicht nur Stromschnellen in den normalerweise ruhig dahinplätschernden Flüssen anderer Leben, Störfelder, Hindernisse, die man am besten nicht beachtet, unerwartete Probleme, die Zeit und Nerven kosten. Und davon hat scheinbar heutzutage niemand mehr als nötig zur Verfügung.
Übrigens wäre ich an diesem Obdachlosen nicht vorbeigegangen. Ich gehöre nämlich zu der Sorte Menschen, die älteren Damen gerne mal über die Straße hilft, auch wenn die gar nicht wollen. Ich gehöre zu den Leuten, die mit offenen Augen durch diese Welt gehen, und ich versuche, innerhalb eines Radius von drei Metern um mich herum hilfsbereit zu sein, um diesen Planeten zu einem besseren Ort zu machen.
Trotz etlicher schlechter Erfahrungen und teils brüsk geäußertem Undank habe ich niemals aufgegeben, obwohl ich öfters eine kalte Abfuhr bekomme, weil ich manchmal zu viel des Guten tue.
Vor einiger Zeit beispielsweise beobachtete ich im Sonntags-Gottesdienst eine gebrechliche Dame um die 90, die gebeugt mutterseelenallein in der vordersten Bank saß und vor sich hin zitterte. Neben ihr an der weißgekalkten Wand lehnte ein zusammengeklappter Rollator. Nirgends konnte ich eine Begleitperson ausmachen.
Nach der Messe strömten die Kirchenbesucher hastig alle zum Ausgang, nur die alte Dame blieb unbeweglich sitzen und rührte sich nicht. Also ging ich zu ihr.
„Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?“ fragte ich, schnappte mir im gleichen Atemzug den Rollator, klappte ihn auf und platzierte ihn neben der Bank. „Ich bringe Sie gern nach Hause. Wo müssen Sie denn hin?“ Mit völligem Unverständnis in den Augen sah sie mich erschreckt an. „Lassen Sie mich in Ruhe!“, rief sie dann plötzlich abrupt. „Ich will hier nicht weg!“, und streckte abwehrend die Hände aus.
Man kann sich manchmal auch täuschen…!
Überrascht ließ ich meine Arme sinken, denn ich hatte sie schon aus der Bank zerren und nach Hause bringen wollen. Vermutlich würde dort eine Standuhr unheimlich laut ticken und die wie Sirup verrinnenden Stunden anzeigen. Alles wäre voller Stickbilder und Staub, und vielleicht stand irgendwo sogar eine ausgestopfte Katze?
Sie sehen, ich besitze entschieden zu viel Phantasie.
In diesem Moment kam auch schon der Pfarrer mit wehendem Talar herbeigeeilt. Die alte Dame strahlte über das ganze Gesicht. „Gottseidank bist du da. Die wollte mich wegholen!“ Anklagend zeigte sie auf mich, und ich schrumpfte innerlich zusammen, denn eine Entführung hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf dem Kerbholz gehabt. Es gibt ja für alles ein erstes Mal.
Mein Begleiter, der am Ausgang wartete, kriegte sich vor Lachen nicht mehr ein, als ich klein und gedemütigt auf dem abgewetzten roten Teppich in Richtung Tür schlich.
„Ich hab dich gewarnt, lass es bleiben“, grinste er schäbig. Das sagt der immer. Ich höre aber nie hin. Und seien wir mal ehrlich: Die Chancen liegen jedes Mal bei 50 %, dass jemand doch Hilfe braucht.
Bei der Frau hatte es sich um die Mutter des Pfarrers gehandelt. Aber woher hätte ich das wissen sollen? Ich hatte nur eine einsame alte Person gesehen, die ohne mich garantiert nie mehr den Weg in ihre verstaubte Wohnung finden würde. Selber schuld. Wäre sie außerhalb meines Radius von drei Metern geblieben…
So läuft es übrigens meistens. In unserem Supermarkt zum Beispiel begegnet mir jeden Samstagmorgen eine uralte Dame. Sie ist winzig, spindeldürr, mit schütterem weißem Haar und zwischen die Schultern gezogenen Kopf. Und sie misst allerhöchstens 150 Zentimeter. Regelmäßig sehe ich sie durch die Gänge schleichen, so langsam, dass sie von sogar von einer gehbehinderten Galapagos-Schildkröte mühelos überholt werden könnte. Und immer schleppt sie schwer an einer uralten braunen, rissigen Reisetasche, die ihr vermutlich schon im zweiten Weltkrieg gute Dienste geleistet hat. Dort verstaut sie ihre Einkäufe.
Neulich stand sie ratlos vor dem Regal mit den Süßigkeiten und starrte irritiert nach oben. Scheinbar kam sie an einen Artikel nicht heran.
„Kann ich Ihnen helfen? Brauchen Sie was vom obersten Regal?“, fragte ich deshalb höflich und erntete einen hasserfüllten, abgrundtief misstrauischen Blick. Sie drehte sich wortlos um und verschwand in den Tiefen der Waschmittel-Abteilung, während sie ihre Tasche auf dem Boden hinter sich her schleifte. So was tut mir in der Seele weh. Was mag diese Frau wohl mitgemacht haben, dass sie allem und jedem mit so viel Misstrauen begegnet? Oder bin ich es, die so abschreckend wirkt?
In den letzten Wochen habe ich sie nicht mehr gesehen. Ich hoffe sehr, ich habe nur die falsche Zeit erwischt, und sie ist schon jedes Mal wieder weg, wenn ich den Supermarkt betrete, und nicht etwa krank oder verstorben. Dabei hätte ich ihr wirklich gern geholfen und sie sogar samt ihrer zerfledderten Tasche in mein Auto geschubst und nach Hause gefahren. Meine 3-Meter-Regel. Sie verstehen schon…
Das “Nicht-Wegschauen-Können” ist wie eine mentale Tätowierung
Das letzte Wochenende verbrachte ich wieder mal in meiner Lieblingsstadt Rothenburg ob der Tauber. Während ich durch die Gassen schlenderte, fiel mein Blick auf eine junge Frau, die sich verbissen mit einem Kinderwagen abmühte, den sie versuchte, über eine hohe Stufe in ein Café zu wuchten. Links und rechts von ihr brandete die Menschenmenge vorbei, niemand schenkte ihr Aufmerksamkeit. „Warten Sie, ich helfe Ihnen“, bot ich an und bückte mich, um den Wagen hinten anzuheben. Resolut zog sie am Griff und zerrte ihn über die Stufe.
„Danke, das geht schon. Bin ich leider gewohnt“, erklärte sie brüsk und verschwand im Warmen.
Da stand ich nun mit meiner zum Helfen ausgestreckten Hand. Die scheinbar niemand benötigte.
Ich bin trotzdem immer aufmerksam, egal, wo ich mich befinde. Es ist wie eine mentale Tätowierung, dieses „Nicht Wegschauen-Können“, dieses Hängen an kleinen Gesten, die ich für menschlich halte.
Wenn der alte Herr vor mir an der Supermarktkasse in seinem abgenützten Geldbeutel kramt, weil ihm 60 Cent fehlen, um die Rechnung zu begleichen, habe ich schon meine Hand am Portemonnaie. Wenn sich jemand bemüht, sich mit einem sperrigen Gegenstand durch eine enge Tür zu quälen, bin ich zur Stelle. Ich bringe heulende Kinder im Supermarkt zurück zu ihren Eltern, halte Türen auf, und ich hab sogar schon im Museum eine Glühbirne im Gang zum mittelalterlichen Verlies gewechselt, weil mich der an Krücken laufende Wärter so hilflos anguckte. Ich kann einfach nicht anders, ehrlich. Obwohl ich versuche, es mir abzugewöhnen. Denn die Menschen scheinen keine Hilfe mehr zu wollen, man macht sich verdächtig, wenn man versucht, nett zu sein.
Es ist einsam geworden da draußen
Probieren Sie einfach mal, lächelnd einen Supermarkt zu durchqueren. Von wegen „Lächle, und du bekommst ein Lächeln zurück“, in Wirklichkeit fühlt sich der Versuch, mit einem freundlichen Gesicht einzukaufen, an, als würde man auf einem Planeten mit lebensfeindlicher Atmosphäre ohne Sauerstoffmaske ausgesetzt. Alle starren einen an, als wäre man komplett irre, oder als würde man sie demnächst um Geld anbetteln.
Ich habe es mit Lächeln versucht, mehr als einmal. Zum Dank dafür wird mir mit dem Einkaufswagen in die Flanke gefahren, oder ich werde mehr oder weniger unsanft am Wühlkorb beiseite gedrückt. Selbstverständlich hat der „Beiseite-Drücker“ dabei das Gesicht abgewandt, als wäre ich gar nicht da, oder als würde er mich nicht sehen. Es ist einsam geworden dort draußen. Und eisig.
Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit, Höflichkeit, es scheint, als wären diese Dinge zum Überleben in freier Wildbahn in der heutigen Welt nicht mehr nötig. Als könnten diese Eigenschaften ruhig aussterben, weil man ohne sie weiter kommt. Dann doch lieber ein paar anständiger Scheuklappen, damit man sich nicht um andere kümmern muss. Damit man das heulende Kind mit dem aufgeschürften Knie übersieht. Damit einen der Anblick des Bettlers in zerlumpter Kleidung nicht belästigt. Man hat ja noch Weihnachtseinkäufe zu tätigen. Und so was macht nur miese Laune.
Es sind aber genau diese spontanen Gesten, die uns auszeichnen, die uns zu mitfühlenden Wesen machen. Es ist die Aufmerksamkeit, mit der man durchs Leben geht, die Art und Weise, wie man auf die anderen schaut, wie man ihnen Zeit widmet.
Ich will gar nicht mit großen Worten anfangen wie „Moral“ oder „Anstand“. Mir würden winzige Zeichen genügen, ein netter Blick, ein freundliches Wort.
Wie gesagt: Es ist kalt geworden da draußen.
Vielleicht würden ja mehr Menschen anderen spontan helfen, wenn sie nicht so schrecklich beschäftigt mit sich selbst wären. Oder mit ihren Smartphones. Oder mit ihren ureigenen Problemen. Es ist erstaunlich, wie ein ungetrübter Blick auf das Elend anderer das eigene Leid manchmal etwas zu relativieren versteht. Klar haben wir alle eigene Sorgen, und niemand von uns ist auf Rosen gebettet, aber woher kommen all die harten Herzen, die desinteressierten Blicke? „Mir hilft auch keiner, muss jeder selber schauen, wo er bleibt“, bekam ich neulich zu hören.
Da beginne ich immer zu frieren.
Wir sehen nicht mehr hin. Weil wir uns abgewöhnt haben, auf unsere Mitmenschen zu achten. Und wir sind dabei, zu einem Heer gedankenloser Egoisten zu werden, die keinen Blick mehr übrig haben für die Schwachen oder Hilflosen. Aber es kann jedem von uns passieren, dass wir selbst mal Hilfe brauchen. Das sollten wir niemals vergessen.
Aufmerksamkeit zu schenken, überfordert viele Menschen
Was ist so schlimm dran, an der Supermarktkasse jemanden vorzulassen, der nur zwei Artikel bezahlen möchte? Was ist so schlimm daran, achtsam seiner Wege zu gehen, jemandem ein Lächeln zu schenken oder ein wenig Aufmerksamkeit? Dies scheint heutzutage viele Menschen zu überfordern.
Denn bei Netflix ist die Welt ja in Ordnung, und statt auf die alte Frau mit ihrer schweren Tasche starrt man doch leichter aufs Handy-Display, bis der Bus kommt.
Ich möchte nicht in einer Welt leben, wo man mit einem Blutfaden und einem Loch auf der Stirn etliche Rasthäuser auf 600 Kilometern Autobahn aufsuchen kann, ohne dass auch nur ein einziger Mensch eine blöde Bemerkung macht. Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der jeder nur noch auf sich selbst schaut, in der jeder sich selbst der Nächste ist und sich niemand mehr um den anderen kümmert. Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der Obdachlose erfrieren, weil Passanten achtlos über ihn hinwegsteigen, als wäre er ein durchnässter Pappkarton. Ich möchte nicht in einer Welt leben, die aus Gleichgültigkeit, sozialer Kälte, Fremdheit und Egoismus besteht. Die könnt ihr für euch allein haben.
Sicher gibt es trotzdem viele wunderbare Menschen, die unserer Gesellschaft wertvolle Dienste leisten. Sie leben nicht die Doktrin „Interessiert mich einen Dreck, mir hilft ja auch keiner“. Sie achten auf das, was sie umgibt, tun im Stillen Gutes und brüsten sich nicht, denn für ihren inneren Frieden, für das Gefühl, einem ureigenen Instinkt zu folgen, der in unser aller Seelen von Geburt an verborgen ist, brauchen sie keine Likes bei Instagram oder Facebook.
Für sie sind andere Menschen keine Stromschnellen im Fluss des Lebens, sondern sie haben erkannt, dass irgendwie alles mit allem verbunden ist, und dass uns nur wenige Kleinigkeiten vom Tier unterscheiden.
Die Menschen an sich sind nicht schlecht
Sie sind da, auch wenn man sie nicht hört. Nur sind es nicht genug, denn ich merke, wie nicht nur an den Rändern unserer Gesellschaft die Gleichgültigkeit um sich greift, sondern bereits in breiten Bevölkerungsschichten angekommen ist.
Menschen an sich sind nicht schlecht, nur fahrig, getrieben von existenziellem Druck, der auf beinahe allen lastet. Das erkennt man an den vielen Uneigennützigen, die sich melden, wenn zu einer Stammzellenspende aufgerufen wird, an der Hilfsbereitschaft für Brandopfer, die alles verloren haben, an der Aufopferung all jener, die sich um ihre pflegebedürftigen Liebsten kümmern.
Menschen sind im Grunde gut. Dabei bleibe ich. Nur wuschig sind sie geworden. Sie hetzen durch ihre Existenz, sind abgelenkt, haben schlechte Erfahrungen gemacht, wurden vielleicht ausgenutzt, betrogen oder gedemütigt.
Ich wünsche mir nicht allzu viel – es würde mir genügen, wenn jeder mit offenen Augen durchs Leben geht, nicht wegsieht, sich spontan erlaubt, zu sein, was uns allen in die Wiege gelegt wurde: ein mitfühlendes Wesen.
Nicht wegzusehen bei Kleinigkeiten ist heute wichtiger denn je, wo unser aller Leben einer rasenden Fahrt einer aus der Bahn geratenen Achterbahn gleicht. Unsicher sitzen wir auf unseren ganz persönlichen Tigern und können nicht mehr abspringen, weil sie uns sonst verschlingen: nicht mehr zu stemmende Raten fürs Eigenheim, der verdächtige Fleck auf dem Rücken, kranke Eltern, Geldsorgen, aufgeschobene Arztbesuche, vor denen wir uns fürchten – alle tragen wir unsere kleinen Privathöllen tagtäglich mit uns herum.
Auch Einsamkeit tötet!
Ein kurzer Blick hinaus aus unserem ganz persönlichen Hades tut der Seele gut. Das Rattenrennen um die bloße Existenz gewinnt nämlich mit jedem Jahr noch mehr an Fahrt, und die Schwachen werden aus den Gondeln geschleudert.
Vielleicht haben wir ja doch mal ein offenes Ohr und schenken der älteren Dame, die uns am Gemüsestand beim Discounter begegnet, lächerliche zwei Minuten unserer Lebenszeit, wenn sie – obwohl fremd und nie zuvor gesehen – mit leuchtenden Augen von ihrem Enkel erzählt, für den sie am Wochenende kocht und deshalb jetzt einkauft. Himmel, es sind nur ein paar Minuten.
Und wenn ich anschließend helfe, ihre schwere Tasche zum Auto zu tragen, wird mich das nicht umbringen. Auch Einsamkeit tötet nämlich.
Meiner Meinung nach wäre diesem Gesteinsklumpen namens „Erde“, der sich auf rasender Fahrt durchs Universum in einer Umlaufbahn um die Sonne befindet, sehr gedient, würde jeder ein wenig mehr auf sein Umfeld achten. Stellen Sie es sich einfach nur mal vor: Egal, wo Sie gehen oder stehen, seien Sie im Rahmen Ihrer Möglichkeiten achtsam innerhalb dieser magischen drei Meter. Diese Fiktion ist einfach zu schön.
So lange ich lebe, werde ich weiter innerhalb meines Radius versuchen, nett zu sein. Vielleicht schieße ich gelegentlich übers Ziel hinaus, vielleicht ernte ich wieder einen bösen Blick, vielleicht lerne ich endlich zu unterscheiden zwischen jemandem, der Hilfe braucht und dem, der sie nicht anzunehmen imstande ist.
Man darf die Hoffnung nie aufgeben.
Sollten wir uns also zufällig mal begegnen, halten Sie bitte den nötigen Sicherheitsabstand ein. Sonst helfe ich Ihnen – ob Sie wollen oder nicht.
Herzlichst,
Ihre Barbara Edelmann