Haben Sie schon mal einen Zerstäuber vor Ihr Gesicht gehalten und dann gepumpt? Man wird nicht wirklich nass, es sind nur Mikropartikel einer Flüssigkeit, die Ihre Haut benetzen und ein kurzes feuchtes Gefühl hinterlassen. Genauso ist es auch mit der sogenannten „virtuellen Realität“, die einen nicht wirklich berührt, sondern nur berieselt.
Stellen Sie sich bitte jetzt einen gigantischen Zerstäuber vor, eine Düse, durch die Sie mit Milliarden von Aversionen, Vorlieben, Abneigungen, Neuigkeiten und leider auch Hass und Selbstgerechtigkeit berieselt werden.
Ja, ich spreche von Facebook. Es ist voller Stimmen, die sich zu einem gigantischen Raunen, Flüstern, Wispern und Rufen vereinigen.
Einige dieser Stimmen sind nur ein Flüstern im Wind, das sich zwischen redundanten Nachrichten, Spendenaufrufen und Katzenbildchen verliert und dann verstummt.
Andere schreien geradezu ihre Einsamkeit in diese schillernde, bizarre Scheinwelt hinaus – nur hört leider keiner von uns mehr richtig zu.
Weltweit existieren 2,34 Milliarden Facebook-Nutzer, von denen 1,47 Milliarden täglich aktiv sind. Wie ich der Seite „statista.de“ entnommen habe, gibt es allein in Deutschland 26 Millionen Menschen, die man als sogenannte „monatliche User“ bezeichnet, also Personen, die regelmäßig ihren Newsfeed kontrollieren und sich umsehen, was die Netzgemeinde zu bieten hat.
Facebook ist ein bunter Bilderreigen, versetzt mit Einzelmeinungen, unterlegt mit Parolen, garniert mit Witzen oder Aufforderungen zu Spenden oder ehrenamtlichem Engagement. Theoretisch könnte ich mit sämtlichen 2,34 Milliarden Nutzern weltweit interagieren, sofern diese es zulassen. Dieser metaphorische „Zerstäuber“, durch den Sie sich berieseln lassen, ist also imposant groß.
Ich zum Beispiel habe eine große Menge regionaler und überregionaler Online-Zeitungen abonniert, weil ich mich gern umfassend informiere. Sie können aber auch lediglich Back-Blogs abrufen oder die neueste Kinovorschau. Das bleibt Ihnen überlassen.
Bis auf ein paar leicht zu erkennende Fake-Profile, selbsternannte „Kreditvermittler“ aus allen Teilen der Welt (auf die Sie hoffentlich nicht hereinfallen), einige Romance-Scammer (also beispielsweise falsche Army-Soldaten, die sich in Ihr Leben und Ihr Portemonnaie schleichen wollen) oder militante Anhänger von extremen Parteien sind Facebook-Nutzer Menschen wie Sie und ich.
Alle essen und trinken, steuern ein Kfz (obwohl ich bei einigen hoffe, sie tun es nicht, ja, dich meine ich, der du dich immer mit leeren Wodkaflaschen und voll wie eine Haubitze präsentierst!), alle haben Wünsche, Träume, Hoffnungen, ein Programm, eine Botschaft … oder sind verzweifelt und einsam.
So gut wie niemand bemerkt sie: die verlorenen Seelen, die stummen Mitleser bei eskalierenden Kommentar-Diskussionen, einsame Poster, die höchstens einmal pro Woche einen Beitrag verfassen, den niemand beachtet, niemand kommentiert, niemand teilt.
Rufer in der Nacht sind sie, die vergeblich in dieses summende Vakuum schreien in der Hoffnung, dass jemand antwortet oder sich ihrer annimmt.
Manche von ihnen fühlen sich besser, wenn sie einen Teil ihres Leids einer breiten Netzgemeinde kundgetan haben und merken vermutlich nicht einmal, dass diese „Zuschauerschar“ von merkwürdigen, vermutlich nicht mal für Facebook wirklich verständlichen Algorithmen abhängig ist, der sie aus dem Raster wirft. Facebook bestimmt nämlich, wer mit Ihnen interagieren kann, wer Ihre Beiträge zu lesen bekommt.
In Großbritannien oder den USA bekommen Sie nur Kredit, wenn Sie eine sogenannte „credital history“ vorzuweisen haben. Sie müssen also beweisen, dass Ihnen irgendjemand schon mal Geld geliehen hat, um welches zu bekommen.
Facebook macht es genauso. Je mehr Likes Sie für Ihre Beiträge erhalten, umso mehr Menschen werden Ihre Postings angezeigt.
Und die im Mahlstrom zwischen schon morgen überholten Neuigkeiten und oberflächlichen Wochenend-Wünschen Untergegangenen – die hört niemand mehr schreien. Dafür haben sie nicht ausreichend Likes bekommen.
Meistens sind sie ganz leise, diese Gestrandeten. Niemand achtet auf sie. Niemand widmet ihnen Aufmerksamkeit, denn das wäre lästig. Wo man doch so beschäftigt damit ist, Fotos seines Abendessens hochzuladen, über die Ortungsdienste mitzuteilen, in welcher Kneipe man gerade den Nachspeisenteller verdrückt hat oder wo man momentan am Strand liegt. Meistens.
Sie schreiben so gut wie nie Kommentare auf vielbesuchten Seiten, nein, sie senden mit einer Hoffnung, die keine mehr ist, in diese virtuelle Dunkelheit, die sie umgibt und wünschen sich, dass es vielleicht einer mal hört. Dass irgendjemand sich für sie interessiert. Weil nichts für die menschliche Psyche so schlimm ist wie die Vorstellung, dass das eigene Dasein für niemanden relevant ist. Ich poste, also bin ich.
Jede Existenz sollte einem Zweck folgen, so hat man es uns beigebracht. Nur wer arbeitet, ist ein guter Mensch. Nur wer morgens aufsteht, nur wer sozialverträglich jovial und gutgelaunt bleibt, gehört dazu.
Alles andere wird ignoriert und weggeklickt. Man ist irritiert, man ist manchmal abgestoßen, manchmal ist man voller Mitleid und oft einfach nur ratlos, was mit denen zu tun ist, die durchs Raster fallen, die aus dem Rattenrennen um die guten Jobs, die schönen Wohnungen, die neuen Autos, gekickt worden sind mit einem Arschtritt. Denn das Leben ist in den seltensten Fällen fair.
Manchmal sind die verlorenen Seelen einfach nur vergessen worden. Manchmal sind sie aus dem gerutscht, was wir als „normales Leben“ bezeichnen und damit sozialverträgliche Existenzen meinen, die uns nicht groß auf den Wecker gehen. Was nicht der Norm entspricht, wird ignoriert und weggeklickt. So einfach ist das in der schönen neuen Welt, von der wir angeblich alle was haben sollen.
Oft haben diese vereinsamten Existenzen sogar eine Freundesliste, die aus ein paar ausländisch klingenden Namen besteht. Vielleicht sind das verlorene Seelen von der anderen Hälfte des Erdballs, ich weiß es nicht.
Nehmen wir Lilly zum Beispiel (Name geändert). Ich bin durch Zufall im Forum einer großen Online-Zeitung über ihren absolut wirren, in keinem Zusammenhang zum Artikel stehenden Kommentar gestolpert. Was sie schrieb, klang so daneben, dass ich mir ihr Profil anschaute. Eine geschlagene Stunde las ich, was Lilly dort von sich preisgegeben hatte, und das war eine ganze Menge.
Wie gesagt, ich weiß von ihr eigentlich nichts, und doch viel zu viel. Sie hat sich auf eine irritierende Weise entblößt, wie jemand, der zwar sein Gesicht verhüllt, aber der ganzen Welt seinen nackten Hintern zeigt.
Lilly veröffentlicht ihren Bewilligungsbescheid für Hartz IV inklusive ihres kompletten Namens und ihrer Anschrift, sie postet an sie gerichtete SMS mit Droh-Inhalten, sie stellt Bilder aus ihrer Kindheit ein, Fotos von ihren Großeltern und die Anordnung eines Gerichts bezüglich der Unterbringung ihres Vaters in einem Pflegeheim.
Sie ist eine dieser verlorenen Seelen, die ich meine. Ihr ganzes Profil schreit nach Hilfe. Und keiner hört ihr zu.
Mal veröffentlicht sie Bilder der Benzinstands-Anzeige ihres Wagens mit der Behauptung, am Vortag sei der Tank noch randvoll gewesen, was bedeuten würde, dass ihr nachts Sprit abgezapft wurde. Mal behauptet sie, ihre Möbel würden heimlich verschoben, der Herd von der Wand weggezogen und ihre persönlichen Habseligkeiten durchwühlt.
Einmal bittet sie herzzerreißend: „Papa, komm zu mir zurück, ich hab dich doch so lieb. Warum meldest du dich nicht bei mir?“
Aber am besten ist Lilly beim Schimpfen. Stellen Sie sich einfach eine Tirade vor, die in etwa so klingt: „Ihr …., ich hasse euch alle, ihr …., …. euch doch, ihr könnt mich alle mal…. ihr ….. und du….. ganz besonders, du …. Stück.“ Und so weiter. Etliche dieser Bezeichnungen kannte ich noch nicht mal. Sie ist recht kreativ. Laut ihrem Profil findet sie übrigens Satan cool. Naja, jeder wie er will.
Wie gesagt: Da ist der nackte Hintern, also all die hässlichen Dinge in ihrem Leben, die ihr geschehen, und da ist das verhüllte Gesicht, denn ich habe keine Ahnung, wie alt Lilly ist. Genau ein einziges Selfie findet sich auf ihrer Seite. Darauf ist eine bildhübsche, alterslos wirkende Frau zu erkennen mit einem strahlenden Lächeln, die einen lebenslustigen, heiteren Eindruck macht.
Ein Facebook-Foto eben.
Gelegentlich entschuldigt sich Lilly für ihre Rechtschreibung, dabei ist diese das einzige, das ich bei ihrem Profil für unbedenklich halte. Sogar ihre erfundenen Schimpfwörter, die sich aus zwei bis drei Fäkalbegriffen zusammensetzen, sind orthographisch korrekt. Sie hat also eine gute Schulbildung genossen.
Wenigstens ist sie gerecht und hasst jeden gleichermaßen.
Seitdem ich ihr verwirrendes Profil durch Zufall entdeckte, schaue ich regelmäßig nach ihr, nur damit sie nicht ganz vergessen ist, denn sie scheint mir sehr allein zu sein. Irgendjemand oder irgendetwas hat ihr wohl mal sehr wehgetan.
Einsamer als Lilly kann wohl niemand sein. Verwandte haben den Kontakt abgebrochen, das weiß ich, weil Lilly die SMS veröffentlichte. Und ihr Exmann droht ihr offen mit Ungemach, bei dem eine Eisenstange und jede Menge Wut mit anschließender schwerer Körperverletzung eine Rolle spielen. Ich hoffe, er kriegt sie nicht zu fassen.
Wissen Sie, ich bin ein freundlicher Mensch und helfe gern. Aber um Lilly würde ich im echten Leben einen großen Bogen machen, denn sie ist wohl einmal zu oft zerbrochen worden. Ich weiß nicht, was ihr angetan wurde, als Kind oder auch als Erwachsene. Aber dass da ein verzweifelter Mensch nach Hilfe schreit und keine Resonanz erhält, das macht mich ratlos.
Lilly ist nicht die einzige verlorene Seele, nach der ich ab und zu sehe. Da gibt es noch ein verrücktes kleines Mädchen. Auf all ihren Fotos wirkt sie sehr kindlich und verloren, höchstens 18 Jahre alt. Sie haust allein in einer düsteren Kellerwohnung, umgeben von Meerschweinchen und Katzen und ist bemüht, mit Selbstgebasteltem aus Dingen, die sie auf Wiesen und in Wäldern findet, diesem Wohnklosett mit Kochnische ein heimeliges Flair zu verleihen. Wenn man ihre Selfies sieht, möchte man sie in den Arm nehmen und drücken, nur um ihr das Gefühl zu geben, sie ist nicht ganz allein.
„Maya“ (geändert) heißt sie. Und sie richtet alle ihre Beiträge an einen Jungen, den sie „Knuddel“ (geändert) nennt, und der nie antwortet. Maya möchte gern mit Knuddel durchbrennen, der sich – ihren Aussagen zufolge – in einer geschlossenen Einrichtung wie zum Beispiel einer Entzugsklinik befindet. Oft schmiedet sie wirre Ausbruchspläne.
Aber „Knuddel“ hat entweder kein Internet, oder er existiert überhaupt nicht. Wenn es ihn aber gibt, und er brennt eines Tages tatsächlich mit Maya durch, wer wird sich um die Meerschweinchen und die Katze kümmern?
Neulich hat sie einen Stein fotografiert und das Bild veröffentlicht. All ihre Fotos kommentiert sie selbst als einzige. Facebook ist Mayas Tagebuch, aber keine besorgte Mutter will wissen, was drinsteht. Das ist so traurig.
Warum ist dieses zierliche, verloren wirkende Mädchen so einsam? Warum muss sie, die offensichtlich eine helfende Hand bräuchte, einen Sozialarbeiter oder einen Therapeuten vielleicht, ganz allein in einer kalten, dunklen Wohnung klarkommen? Ist das dieses System, dieses soziale Netz, das alle so loben?
Oder möchte sie es so haben?
Als nächstes wäre da Paul (geändert), Frührentner und auf Mindestsicherung angewiesen. Früher befand er sich einmal in meiner Freundesliste und postete des Öfteren, dass er vorhätte, von einer Brücke zu springen.
Ich schrieb ihn daraufhin an. Nachdem er mir sein Leid geklagt hatte: vormals höherer Angestellter, heute Rentner, muss Abfall essen (Zitat), Wohnung schimmelt vor sich hin, keine Familie, keine Freunde, überwies ich ihm 100 Euro in der Hoffnung, er würde sehen, dass die Welt nicht ganz schlecht ist. Dass er nicht allen Leuten so gleichgültig ist, wie er denkt.
Er nahm das Geld, dann entfreundete und blockierte er mich umgehend.
Ach Paul, ich habe noch einen Account, du Dummdödel. Und ich habe mir Sorgen gemacht, obwohl du mich nichts angehst. Obwohl du schmuddelig aussiehst und einen irgendwie verwahrlosten Eindruck machst. Vermutlich hast du dich selbst schon aufgegeben.
Ich habe Paul sogar mal gegoogelt, als er ein paar Wochen nichts postete, weil ich dachte, er hätte seine Drohung wahrgemacht. Während meiner Internet-Recherche erfuhr ich staunend, dass sogar ein ausführlicher Zeitungsartikel über ihn existierte. Verblüfft las ich, dass ihm die Stadt Taxifahrten zum Arzt, aufgrund seiner Gehbehinderung, sowie eine Haushaltshilfe finanziert. Todesanzeige entdeckte ich keine. Das war es, was ich wissen wollte, und erleichtert lehnte ich mich zurück.
Ich gebe zu, Paul ist arm dran. Er hatte vorher ein etwas ausgedehnteres Leben, wie ich es nenne. Konnte zweimal jährlich in Urlaub fliegen, sich etwas leisten, und verdiente gutes Geld.
Dann kam dieser Unfall, und er war weg vom Fenster.
Der soziale Abstieg, den wir alle fürchten, und den viele leider schon hinter sich gebracht haben, setzt einem zu. Mehr als man glauben möchte, wenn man selbst der eigenen Meinung nach noch relativ fest im Sattel sitzt.
So lief es auch bei Walter (geändert). Nach einer unerquicklichen Scheidung zog er seine beiden Söhne allein groß, während er nebenher noch eine kleine mittelständische Firma mit ein paar Angestellten führte. Er kochte täglich frisch für die Kinder, bügelte, wusch, machte Hausaufgaben mit seinen Sprösslingen und abends die Buchführung, war immer gut drauf, immer aktiv, und in jeder Lebenslage hatte er einen Scherz auf den Lippen.
Dann wurden Walters Eltern krank und verstarben beide innerhalb desselben Jahres. Er pflegte sie aufopfernd bis zum bitteren Ende, musste anschließend deren Wohnung auflösen und löste dabei aus Versehen auch noch nebenbei seine Firma und seine langjährige Beziehung auf, denn er hatte vor lauter Kummer angefangen zu saufen, und zwar mehr als genug.
Seine Söhne waren mittlerweile erwachsen geworden und ausgezogen. Nun saß Walter mittellos nach einer demütigenden Insolvenz in seiner Altbauwohnung mitten in der Großstadt, als auch noch die Kündigung wegen Eigenbedarf ins Haus flatterte und er sein Zuhause räumen musste.
Pleite, so gut wie immer verkatert und ohne Aussicht auf einen Job trotz einer gediegenen Ausbildung zum Handwerkermeister eine Wohnung zu finden, ist auch nüchtern schon schwer genug. Walter war damit überfordert.
Eine Bekannte ließ ihn im Souterrain ihres Hauses für eine lächerlich geringe Miete unterschlüpfen. Dort versuchte Walter weiterhin, auf die Beine zu kommen. Allerdings verweigerte er hartnäckig staatliche Unterstützung, vermutlich wegen der strengen Reglementierung, der er sich als ehemaliger Selbständiger nicht ausgesetzt sehen wollte, und pumpte stattdessen seine paar übriggebliebenen Freunde an.
Ich war einer davon.
Natürlich zahlte er nie etwas zurück. Genauso wenig wie Miete für die winzige Wohnung im Haus seiner Bekannten.
Er spielte toten Käfer, beantwortete keine Nachrichten mehr und ging nicht mehr ans Telefon. Vermutlich hoffte er, seine Gläubiger würden sich, wenn er nur lange genug durchhielte, in Luft auflösen.
Da er mich aus seinem Leben gestrichen hatte, blieb mir nur, ihn gelegentlich auf seiner Facebook-Seite zu „besuchen“, um zu erfahren, ob er denn überhaupt noch lebte.
Er verfasste Beiträge in verschwurbeltem Deutsch über Nichtigkeiten und gab sich allergrößte Mühe, bei seinen knapp 300 Facebook-Freunden dein Eindruck aufrechtzuerhalten, bei ihm sei alles wunderbar in Ordnung.
Regelmäßig veröffentlichte er Ergebnisse von Online-Quiz-Spielen, bei denen er selbstverständlich immer überragend abgeschnitten hatte, ließ alle an tiefschürfenden Gedanken über Gott und die Welt teilhaben und fotografierte ab und zu sein liebevoll angerichtetes Essen.
Wer ihn nicht kannte, musste glauben, er hätte alles im Griff. Das war wohl der Sinn der Sache. Und trotzdem hörte ich ihn rufen. Sehr laut sogar.
Dann verkaufte seine Bekannte das Haus, denn Walter hatte ewig weder Miete noch Nebenkosten bezahlt, und sie konnte es nicht mehr halten.
Walter teilte seinen 300 „Freunden“ mit, dass er ein neues Zuhause suche. 3 Zimmer, Küche, Bad, Balkon. Wenn möglich, 400 Euro. Warm. In einer deutschen Großstadt.
Viele meldeten sich, teilten ihm mit, dass seine Vorstellungen eher nach Burundi passen würden und schlugen ihm ansprechende Appartements vor, die ein wenig teurer waren. Woher hätten sie auch wissen sollen, mit welchen finanziellen Problemen Walter zu kämpfen hatte? Wo er doch immer so verdammt gut drauf und souverän gewesen war, ganz offiziell?
Seitdem verliert sich Walters Spur. Es ist still um ihn geworden. Er „schreit“ nicht mehr ins Internet: „Seht her, wie gut es mir geht, wie klug ich bin, wie toll ich koche, ich gehöre doch zu euch!!!“.
Walter ist verstummt.
Wo er wohl wohnt? Wohnt er überhaupt irgendwo? Hat ihn eines seiner Kinder aufgenommen? Wo ist er hin? Hat er ein warmes Plätzchen gefunden? Musste er etwa in ein Obdachlosenheim?
Es tat wirklich weh, mit anzusehen, wie Walter immer tiefer sank. Weiter und tiefer, als ich es bei ihm je für möglich gehalten hätte.
Ich musste beobachten, wie er verstummte, wie er es nicht einmal mehr schaffte, genügend Energie aufzubringen, um sich selbst darzustellen, so wie es alle hier machen. Immer wieder einmal trifft man falsche Entscheidungen, die sich nicht rückgängig machen lassen. Sorgen lassen sich nicht ertränken, Walter – sie sind hervorragende Schwimmer.
Ich würde gern wissen, was er heute tut, wie es ihm geht. Und ich rufe seine Seite immer noch einmal in der Woche auf. Wegen des Geldes bin ich nicht böse, obwohl ich es nie mehr wieder bekommen werde.
Walter ist eine verlorene Seele. Die machen das. Die dürfen das. Sonst wären sie nicht verloren. Sonst wären sie noch voll dabei.
Ob ich zu viel freie Zeit habe, fragen Sie? Nein. Die habe ich nicht. Nur zu viel Empathie.
Vergessen will ich sie nicht, „meine“ verlorenen Seelen, gescheiterte Existenzen, die mich gestreift haben, wie ein kalter Lufthauch in der Nacht, und deren Berührung mich nicht mehr loslässt.
Es sind kleine Leben, wissen Sie. Keine Berühmtheiten. Wenn sie morgen sterben würden, wer würde um sie weinen? Ich würde nicht einmal mitbekommen, dass sie nicht mehr da sind. Und trotzdem kann ich es nicht lassen. Weil sie dann ganz vergessen sind.
Es gibt noch ein paar mehr, nach denen ich regelmäßig schaue. Wie ein Oberarzt bei der Visite, der hastig und mit wehendem Kittel an Betten vorbeirennt, sich kurz Notizen macht und dann schnell wieder aus dem Zimmer verschwindet, um den Patienten nicht zu wecken oder zu erschrecken.
Weil es einfach zu viele sind. Viel zu viele. Ich kann nicht allen helfen, und die meisten wollen gar keine Hilfe. Sie wollen nur wahrgenommen werden.
Solange auch nur ein Mensch diese Pinnwände voller verlorengegangener Hoffnungen und Alpträume besucht, sind sie nicht ganz allein. Es interessiert mich, wie es ihnen geht, was sie machen. Wenigstens einen interessiert es.
Man fällt leicht durchs Raster in dieser Welt. Ein kleiner Knacks reicht, und man ist raus. Denn dann kann man dieses Rattenrennen um das höchste Gehalt, das dickste Auto, den entferntesten Urlaub, nicht mehr mitmachen, um den es scheinbar hauptsächlich geht.
Kalt ist diese Welt geworden. Und für diese Form von Kälte gibt es keine Jacken oder wärmende Decken. Pass dich an oder stirb. Und wenn du dich nicht anpasst, verhalte dich unauffällig oder werde gefälligst so berühmt, dass es als Exzentrik interpretiert werden kann.
Manchmal, wenn ich wieder nachschaue, ob Lilly immer noch alle hasst oder Walter endlich eine Wohnung bekommen hat, wenn ich mich frage, ob der ominöse „Knuddel“ der kleinen Maya endlich geantwortet hat, ob Paul damit aufgehört hat, von einer Brücke springen zu wollen, dann muss ich einen Moment innehalten und mich fragen:
Bin ich der einzige Mensch, der darüber traurig ist, dass es so viele Traurige gibt? Bin ich der einzige, der erkennen muss, dass diese Solidargemeinschaft so solidarisch gar nicht ist? Dass allein der administrative Aufwand des Ausfüllens eines Antrags auf staatliche Hilfe manche Menschen vielleicht überfordern könnte?
Es gibt viele verzweifelte Menschen da draußen. Vielleicht sind sie, nach gängiger psychologischer Definition, sogar krank. Alle leiden zumindest an Depressionen und haben keinen Mut mehr. Das Netz in Deutschland ist nicht mehr engmaschig, die Löcher darinnen sind mittlerweile riesengroß. Man fällt leicht da durch.
Wenn Sie einen dieser verlorenen Seelen durch Zufall entdecken, dann sehen Sie gelegentlich mal nach ihnen. Es kostet ja nichts. Und es erinnert Sie daran, wie gut Sie es haben. Oder: dass Sie nicht allein mit Ihrem Kummer sind.
Wir haben nämlich alle unter unserem Dach ein sogenanntes „Ach“. Wirklich alle.
Das Leben rupft jeden einmal. Viele Faktoren entscheiden darüber, ob wir uns aufrappeln oder liegenbleiben. Vielleicht treffen Sie mal einen Gestrauchelten. Auch wenn Sie ihm nicht die Hand reichen, schauen Sie ihm wenigstens in die Augen. Registrieren Sie, dass es ihn gibt.
Für verlorene Seelen ist das schon viel.
Danke.
Ihre Barbara Edelmann
Bildnachweis: pexels.com