Donnerstag, 28. März, 2024

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“Wer sich vom Kummer beugen lässt, wird von ihm beherrscht“ – Kolumne Barbara Edelmann

…lautet ein altes Sprichwort. Und nichts ist so beständig wie der Wandel, sagen die Buddhisten. Man kann sich im Leben nur auf eines verlassen: dass nie etwas für immer so bleibt, wie es ist. Leider. Oder Gottseidank? Das kommt auf die jeweilige Lebenssituation an.

Melanie ist seit Jahrzehnten eine gute Freundin – und eine wahre Kämpfernatur. Niemand in meinem Bekanntenkreis hat schon so viel erlebt wie sie – und überlebt. Sie lag mit Organversagen im Sterben und erholte sich wie durch ein Wunder, verlor nacheinander zwei Kinder, wurde Opfer eines brutalen Kapitalverbrechens, und kämpfte sich jedes Mal mit unverwüstlicher Willenskraft wieder zurück ins Leben, das sie über alles liebt.

Im Februar 2019 wurde sie von ihrem Mann vier Wochen vor ihrem 50ten Geburtstag verlassen – nach 27 Jahren Ehe. Er baute sich an einem Samstagabend vor ihr auf und teilte ihr mit angestrengt-betrübter Miene mit: „Du bist nicht das, was ich mir für den Rest meines Lebens vorstelle. Ich ziehe aus.“ Melanie fiel aus allen Wolken, immerhin hatten sie ein paar Wochen zuvor noch harmonische Weihnachten gefeiert. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass etwas im Argen liegen könnte.

Brennender Kummer nach Trennung aus dem Nichts

„Er hat eine kennengelernt und sich eiskalt aus dem Staub gemacht“, erklärte sie mir später. „Da kennt er gar nichts. Dafür hat er mich liegenlassen wie gebrauchtes Einwickelpapier.“

Erschwerend kommt hinzu, dass Melanie in derselben Firma wie ihr Ex beschäftigt ist, wo er eine wesentlich höhere Position bekleidet als sie. An diesem Abend, als er sie verließ, klärte er sie gönnerhaft lächelnd darüber auf, dass sie noch eine Weile („vielleicht sechs Monate oder so“) ihren Job behalten könne, danach müsse sie allein zurechtkommen, denn es ginge nicht, dass sie weiterhin zusammenarbeiteten, und er würde beim Boss dafür sorgen, dass man sie entließe.

„Du kriegst das schon hin“, grinste er teilnahmslos. Dann ging er schlafen, ohne sich weiter um sie zu kümmern, und ließ sie allein am Küchentisch sitzen, wo sie mit kalkweißem Gesicht um Fassung rang.

Eine Weile starrte sie schweigend auf das gemaserte Holz, schluckte dann eine Beruhigungstablette und ging ebenfalls ins Bett, wo er bereits selig vor sich hin schnarchte. Alles in ihr war leer und kalt. Irgendwann dämmerte sie weg. Als sie am nächsten Tag aufwachte, war er verschwunden – in seine neue Zukunft ohne sie. Sein Abgang schien von langer Hand geplant gewesen zu sein, denn sie entdeckte, dass einiges von seiner Kleidung fehlte, er musste es schon vorher klammheimlich weggeschafft und dafür gesorgt haben, dass es ihr nicht auffiel.

„Da stand ich also an diesem Sonntag“, erzählte sie. „Jeder Schritt fiel mir schwer, als hätte ich Bleigewichte an den Beinen. Draußen schien die Sonne, die Welt strahlte förmlich, nur meine eigene war grau und trübe und dabei, über mir einzustürzen. Aber ich schwor mir, nicht zu heulen.

Und ich nahm mir vor, auf gar keinen Fall verzweifelt zu sein. Sobald man beginnt, zu verzweifeln, schrumpft man innerlich zusammen und stürzt kopfüber in ein schwarzes Loch, in das kein Tageslicht mehr dringt. Das konnte ich mir einfach nicht erlauben – so viel war mir klar.“

Grund genug zur Panik hätte sie gehabt, denn in einer Umgebung von 100 Kilometern waren Arbeitsplätze für Frauen in ihrem Alter rar gesät, außerdem hatte sie keine Ahnung, wie sie die horrende Miete für die Wohnung aufbringen sollte. Also schlurfte sie wie ferngesteuert zum Sofa, loggte sich bei Amazon ein und lud sich ein Selbsthilfebuch über positives Denken herunter.

Erste Hilfe: Selbsthilfebuch

„Es schien mir einfach richtig, das zu tun“, berichtete sie. „Ich war wie gelähmt, weil ich das alles nicht fassen konnte. Es kam aus heiterem Himmel und zog mir den Boden unter den Füßen weg.“

„Ein Selbsthilfebuch?“, wunderte ich mich.

Sie nickte. „Kannst mich gern auslachen, aber da war eine Stimme in meinem Kopf, die flüsterte: ‚Ich hab nicht bis heute auf dich aufgepasst, um dich jetzt im Stich zu lassen.‘ Die Idee mit dem Buch war plötzlich da. Wenn du mal so viel durchgemacht hast wie ich, klammerst du dich an jeden Strohhalm, und sei er noch so dünn. Ich wäre auch zu einem Wunderheiler gegangen, wenn ich einen gekannt hätte, nur damit mein Herz nicht mehr so wehtut. Aber leider hatte wohl die Geschichte mein Immunsystem angegriffen, denn gegen 13:00 Uhr desselben Tages krümmte ich mich bereits auf dem Sofa mit Schüttelfrost, Magenkrämpfen und Kopfschmerzen. Meine Glieder fühlten sich an, als hätte mir jemand mit dem Baseballschläger sämtliche Knochen gebrochen.
Und mein Fieberthermometer, das ich mir mit letzter Kraft aus dem Bad holte, zeigte beinahe 41 Grad. Also legte ich mich schlotternd wieder hin, hüllte mich in zwei Decken, und dann war ich auch schon weggetreten.“

„Warum hast du nicht angerufen?“, schimpfte ich sie. „Ich wäre doch gekommen.“

„Das konnte ich nicht“, klärte sie mich auf. „Ich wusste, wenn ich jetzt mit jemandem rede, dann ist alles Vorgefallene präsent, und ich gebe ihm zusätzlich Kraft. Weil die Energie der Aufmerksamkeit folgt. Und ich war mir sicher, wenn ich anfangen würde, zu weinen, dann würde ich nie mehr damit aufhören. Ich hab der Verzweiflung verboten, sich bei mir einzunisten, die hätte mich umgebracht. Und offen gestanden ging es mir wegen des hohen Fiebers viel zu schlecht, um überhaupt zu registrieren, was genau passiert ist.“

„Du hättest sterben können“, murmelte ich betroffen. „Das war bestimmt eine Virusgrippe.“ „Möglich“, winkte sie ab. „Du hast keine Ahnung, wie ich dagelegen bin. Einmal fand ich ein nasses Handtuch auf dem Fliesenboden und gehe davon aus, dass ich halb bewusstlos versucht habe, mir einen Wadenwickel zu machen. Hat wohl nicht geklappt.“ Sie verzog ihr Gesicht zu einem Grinsen. „Unfassbar.“ Ich konnte nur den Kopf schütteln, während ich lauschte.

In schwierigen Situationen zeigt sich der Lebenswille

„Ich hatte die ganze Zeit so schrecklichen Hunger, trotz des Fiebers“, erzählte sie weiter. „Gelegentlich holte ich mir mit zittrigen Beinen eine Flasche Mineralwasser, weil ich wusste, ich muss etwas trinken, aber mir was zu essen zu machen, das schaffte ich nicht. Ich fürchte, ich war wirklich ziemlich krank. Hab mich an der Wand langgetastet und an allem festgehalten, was herumstand.“

„Das war sehr leichtsinnig von dir“, gab ich zu bedenken.

„Einmal hab ich Tomatensuppe aus der Tüte in einen Topf mit Wasser geworfen und umgerührt“, fuhr sie sie fort. „Nach drei Tagen oder so. Weil der Hunger richtiggehend wehgetan hat. Ich hab diese rote, flockige Brühe gelöffelt, sie war kalt und eklig. Aber ich dachte nur immer: ‚Wenn ich DAS schaffe, dann schaffe ich alles. DER kriegt mich nicht klein. Es war wie eine Narkose im Gehirn, und es kostete mich wahnsinnig viel Kraft, die Tür zuzuhalten, damit die Verzweiflung nicht rein kann.“

Ungläubig musterte ich sie. Melanie hatte innerhalb von 10 Tagen 7 Kilo abgenommen, ihre Augen lagen tief in den Höhlen, das Gesicht war eingefallen. Aber in ihrem Blick war ein kämpferisches Leuchten.

„Wahnsinn, wie du mit dem Unglück zurechtkommst“, sagte ich beeindruckt. „Kunststück, ich hab ja lange genug geübt, überleg mal, was ich schon alles hinter mir habe“, antwortete sie verschmitzt. „Das Fieber kam zur rechten Zeit, denn ich war deshalb zu benommen, um über meine beschissene Lage nachzugrübeln. Dafür bin ich dem Universum dankbar. Was mir unglaublich geholfen hat, war dieses Buch über positives Denken. Immer, wenn ich mal wach war, habe ich eine Seite gelesen oder zwei. Dann fielen mir wieder die Augen zu.“

Das Gute im Schlechten sehen

Sprach’s, setzte sich neben mich und lächelte. Und als ihr Ex einige Wochen nach unserer Unterhaltung mit kleinlauter Stimme vor der Tür stand und sie unter einem fadenscheinigen Vorwand besuchen wollte, weil sie ihn auf allen Kanälen blockiert hatte und er sie nicht erreichen konnte, öffnete sie einfach nicht mehr.

Melanies Talent ist, sich aus allem Schlimmem, das ihr widerfährt, ein groteskes Stücklein Gutes zu klauben, wie beispielsweise ihre Dankbarkeit für das hohe Fieber, das ihrer Meinung nach ein Geschenk war, denn sie war deshalb zu krank zum Nachdenken.

Andere reagieren anders:

Lisa und ihr Mann haben sich 2009 ein Haus gekauft für sich und ihre drei Kinder. Ihre Sanitärfirma lief damals super, die Kinder waren aus dem Gröbsten raus, die Immobilie schien günstig, und beide hatten sich sofort in das riesige verwilderte Grundstück verliebt. Dann blieben bei Lisas Mann die Aufträge aus, und sie selbst verlor ihre Stelle im Büro. Seitdem haben beide jeweils zwei mies bezahlte Jobs. Lisas Mann fährt nachts nach der Arbeit LKW, sie bedient nebenher noch in einem Café bis in die Nacht. Das Geld reicht trotzdem nie für alles, denn immer ist irgendwas: Das Haus war nämlich doch kein Schnäppchen und benötigt ein neues Dach, die Heizung ist total kaputt, und beim Verkauf würden sie trotz der derzeitigen Immobilienpreislage auf einem Schuldenberg sitzenbleiben. Ohne Dach über dem Kopf. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Essen aus Kummer – für viele ein Stress-Ventil

Lisa hat vor Kummer angefangen, zu essen und innerhalb kürzester Zeit 35 Kilo zugenommen. Mittlerweile wiegt sie bei einer Größe von 160 Zentimetern stolze 110 Kilo und hat sich eine beginnende Diabetes und ein schmerzhaftes Lipödem eingehandelt.

„Ich habe die ganze Zeit nur noch Angst“, gestand sie mir neulich. „Davor, dass wir das Haus verlieren, dass wir unsere Jobs verlieren, dass nochmal was kaputtgeht, das wir uns nicht leisten können, reparieren zu lassen. Und wenn ich Angst habe, esse ich. Ich kann einfach nicht mehr damit aufhören, es ist, als hätte ich ein schwarzes Loch in meinem Inneren, das niemals voll wird. Nach jeder Fressorgie fühle ich mich mieser als zuvor, weil ich dick bin. Dann hasse ich mich. Und gegen diesen Hass gibt es nur ein einziges Mittel: noch mehr essen.“

Todunglücklich sieht sie aus, als sie das sagt, während sie gerade ein Stück Torte verdrückt. „Den Kummer in sich hineinfressen“, würde ich das nennen. Und während Lisa sich mit übermäßigem Essen quält, weicht eine Dritte auf pharmazeutische Erzeugnisse aus:

Anna, Anfang 50, ist seit 24 Jahren verheiratet. Zusammen mit ihrem Mann hat sie sich eine Firma aufgebaut, mit viel Arbeit, wenig Schlaf und hartem Einsatz. In ihrer Freizeit kümmert sie sich um Haus und Garten und putzt die Geschäftsräume.

Existenzängste können zermürben

Nun ist ihr Mann ernsthaft erkrankt und alles, wofür sie in den letzten Jahrzehnten gearbeitet haben, in Gefahr, denn es geht ihm mit jedem Monat schlechter. „Er nimmt so starke Tabletten, dass seine Haut allmählich so dünn wie Papier ist“, vertraute sie mir an. „Und er arbeitet Tag und Nacht, als müsse er dringend noch was fertigbringen, ehe er stirbt. Das macht mir eine Heidenangst. Irgendwann fällt er einfach um. Er sollte sofort aufhören zu arbeiten. Aber das will er nicht, denn dann ist alles weg. Dieses winzige alte Haus, das wir in den letzten 20 Jahren mühsam in Kleinarbeit renoviert haben, unser Einkommen, alles. Ich krieg‘ nicht mal Rente, weil er immer sagte, es sei zu teuer, mich anzustellen. Das hab‘ ich nun davon.“

Wenn Anna es gar nicht mehr aushält, verkriecht sie sich in den Keller der Firma und heult in eine Rolle Klopapier. Täglich schluckt sie Tranquilizer in immer höherer Dosierung.
„Manchmal mache ich kein Auge zu, und ich muss doch leistungsfähig bleiben“, rechtfertigt sie ihren Tablettenkonsum.

„Die Dinger haben ein starkes Suchtpotenzial“, warne ich sie. „Du solltest die nicht so oft nehmen.“

„Gibst du mir jeden Monat einen Scheck?“ braust sie auf. „Zahlst du mir mal die Rente? Machst du meinen Mann gesund? Hilfst du mir, wenn er stirbt, und ich dann mit der Firma und ohne Job dastehe? Jahrzehntelang hab ich geschuftet, nie Urlaub gehabt, und jetzt fordert er meine ganze Aufmerksamkeit. Ich komme nicht mal zum Luftholen. Alles dreht sich nur noch um ihn und seine Krankheit. Wenn ich nicht im Geschäft stehe, kümmere ich mich um ihn. Ich bin am Ende.“

Mittlerweile kann Anna ohne ihre Tabletten nicht mehr leben. Sie wirkt fahrig und unkonzentriert, bricht aus nichtigem Anlass in Tränen aus und übergibt sich ständig. Außerdem hat sie festgestellt, dass ihre Beruhigungsmittel besser wirken, wenn sie ein oder zwei Gläser Wein dazu trinkt. Der weitere Werdegang ist absehbar. Es bricht einem das Herz.

Schicksalsschläge – sie können jeden treffen

„Er wollte nur mit dem Fahrrad schnell Brötchen fürs Frühstück holen“, erzählte mir Frau O. Mit ihrem Mann habe ich vor vielen Jahren lange zusammengearbeitet. Zufällig sind Frau O. und ich uns bei Aldi über den Weg gelaufen.

Heute, mit Anfang 70, ist sie immer noch eine imposante, gepflegte Erscheinung. Nur in ihren Augen spiegelt sich endlose Trauer, als sie fortfährt:

„Ich hörte durch das geöffnete Fenster die Sirenen, während ich den Tisch deckte, und wusste instinktiv, mit ihm ist etwas Schlimmes passiert.“ Für einen Moment stockt sie. „Ein unachtsamer Autofahrer hat ihn gerammt – er war sofort tot.“

Betreten lausche ich, denn ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen, wie Herr O. mir einmal in der Woche den von ihm abonnierten „Spiegel“ auf meinen Schreibtisch legte, damit ich ihn gratis lesen konnte. Ich hatte damals wenig Geld, und er war immer sehr nett zu mir. Eine Stunde stehen wir im Gang des Discounters, während sie ihrem Herzen Luft macht.
„Es ging so schrecklich schnell“, sagt sie zum Abschluss leise. „Wir haben uns so liebgehabt. Das hätte nicht passieren dürfen.“

Ja. Hätte es nicht. Das nicht und alles andere auch nicht.

Jeder hat anderen Weg für Konfliktbewältigung

Ich kenne viele solcher Geschichten, noch wesentlich schlimmere sogar. Das Schicksal zieht einem manchmal einfach den Boden unter den Füßen weg, wirft uns ins Nichts, und nie sind wir wirklich darauf gefasst. Jeder Mensch hat seine eigene Art der Konfliktbewältigung, und nicht selten enden solche gravierenden Einschnitte in Sucht oder völliger Selbstaufgabe. Nicht jeder hat eine kleine Stimme im Kopf, die ihn tröstet, nicht jeder kann mit einem Buch über positives Denken die Verzweiflung überwinden, nicht jedem helfen Esoterik oder Spiritualität, dafür ist das Leben einfach manchmal viel zu grausam.

„Geteiltes Leid ist halbes Leid“, heißt es, doch wer von uns traut sich, auf andere zuzugehen und etwas Anteilnahme einzufordern? Wer von uns kann denn wirklich noch zuhören und echtes Mitgefühl entwickeln – das übrigens etwas ganz anderes ist als Mitleid. Wir Menschen sind komische Wesen. Viele von uns, denen es mies geht, behalten ihr Leid für sich, weil sie anderen nicht auf den Wecker gehen möchten. „Keine Umstände machen“, nennen sie es verschämt.

Werden wir gefragt: „Wie geht’s dir?“, dann antworten wir normalerweise „Alles bestens, und selbst?“ Für Schwäche und Krisen gibt es im Bekanntenkreis ein begrenztes Kontingent an Mitgefühl, das man tunlichst nicht aufbrauchen sollte. Um das herauszufinden, brauchen Sie nur mal an einer Depression zu erkranken wie Pia, die vier Monate nach ihrem Zusammenbruch oft gefragt wurde: „Jetzt ist es aber wieder gut, oder? Man muss sich nur zusammenreißen.“

Offenes Ohr ist selten

„Sich zusammenreißen“. Zusammenbrechen. Es gibt viele Worte für das Elend, das uns umgibt, und Schmerz, echter Schmerz, echtes Leid, ist überall um uns herum, es wird nur allzu selten sichtbar. Wir verbergen es nämlich tapfer, denn man hat uns beigebracht, stumm zu leiden, um niemandem zur Last zu fallen. Dabei ist es für die Seele ungemein erleichternd, sich mitteilen zu dürfen. Ich bin ganz sicher: Würde ich mir heute eine 0900er-Nummer legen lassen und in der Zeitung inserieren: „Ich höre Ihnen zu – pro Minute 2,50 €“, dann könnte ich damit richtig Geld verdienen. Denn ein offenes Ohr hat Seltenheitswert. Zu sehr sind alle mit sich selbst beschäftigt.

Laut der Website der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde kümmern sich derzeit 13.500 Psychiater in Deutschland um Betroffene.

Bei „Statista“ kann man erfahren, dass die Zahl der nicht ärztlichen Psychotherapeuten in Deutschland von 3.783 (2012) auf 5.102 im Jahre 2015 angewachsen ist. Dies entspricht einem Anstieg von knapp 35 Prozent. 2015 gab es insgesamt 22.547 Psychotherapeuten.

Und die Zeitschrift „Der Spiegel“ berichtet in einem Artikel vom 05.07.2012, dass nach Angaben des Berufsverbands der Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie(BPM) ein Drittel (!) der erwachsenen Bevölkerung in einem Jahr an mindestens einer psychischen Erkrankung leidet. Zu den häufigsten psychischen Krankheiten gehören Depressionen und Angststörungen.

Wartezeiten für Termin beim Psychologen oft lang

Ein Drittel… Lassen Sie das mal sacken.

Zwar verfügt Deutschland also über ein Heer an Psychotherapeuten und Psychiatern, aber irgendwie sind nie genug für alle da. Die üblichen Wartezeiten betragen nämlich normalerweise 6 Monate bis zu 2 Jahren. Wenn es einem wirklich schlecht geht, ist dies entschieden zu lang. Außerdem können diese Therapeuten keine Wunder bewirken. Sie hören zu. Sie geben Anleitungen, sie helfen einem, sich selbst zu erkennen. Den Rest müssen wir allein schaffen. Oder es ergeht einem wie Pia, bei der mittlerweile jeder zweite Satz mit den Worten beginnt: „Mein Therapeut hat gesagt…“

Die deutsche Sprache ist wie ein Präzisionsinstrument zur Beschreibung diffuser Zustände. Wenn jemand „untergeht“, dürfen wir das ohne Weiteres wörtlich nehmen, denn je tiefer wir im Ozean unseres Kummers versinken, umso mehr verstärkt sich – genau wie in der Physik – der Wasserdruck, und irgendwann implodieren wir. Wer erst mal ganz unten angelangt ist, wird von der Umwelt nicht mehr wahrgenommen. Peinlich berührt drehen alle die Köpfe weg. Plötzlich ist man eine Unperson.

„Ich hab eigene Sorgen“, denkt das Umfeld dann. „Und genug mit mir selbst zu tun.“ Manchmal – wenn wir in einem tiefen schwarzen Loch sitzen, dann hoffen wir in einem Winkel unseres malträtierten Herzens verzweifelt darauf, dass irgendjemand kommt und uns hilft. Einer, der spürt, dass es uns nicht gut geht. Einer, der plötzlich vor der Tür steht, klopft und sagt: „Es geht dir schlecht, komm, ich unterstütze dich. Du schaffst das nicht allein.“ Aber so funktioniert das Leben leider nicht.

Wenn keiner da ist, muss man sich selbst helfen

Manchmal müssen wir uns einfach selbst helfen, weil es sonst keiner tut. Wenn wir Hilfe brauchen, müssen wir uns artikulieren, laut werden, uns mitteilen. „Prima, alles bestens“, ist keine wahrheitsgemäße, geschweige denn vermeintlich tapfere Zustandsbeschreibung, sondern eine traurige, sinnlose Lüge.

Es sind nicht immer Krankheiten, die einem den Boden unter den Füßen wegziehen. Unverschuldete Arbeitslosigkeit zum Beispiel kann es sein, wenn man auf die 60 zugeht, ein schwerer Unfall, der Verlust eines Haustieres oder eines geliebten Menschen. Oder man wird verlassen wie Melanie.

Manchmal ist es auch nur blanke Angst, die einen auffrisst, wie bei der übergewichtigen Lisa. Wenn immer zu viel Monat am Ende des Geldes ist, wenn einen eine Waschmaschinen-Reparatur an den Rande der materiellen Existenz bringen kann, wenn eine Reparatur am Auto einen vor die Entscheidung stellt, ob man in der letzten Novemberwoche lieber isst oder zur Arbeit fahren soll. Wenn das Kind schwer erkrankt, man in der Firma gemobbt wird, kann einen das zerstören – die Seele ist extrem zerbrechlich. Und ein Menschenleben auch. Keine Mauern, keine Steine, keine bleiverkleideten Türen schützen einen vor der Willkür des Schicksals. Es bleibten nur Demut, Durchhaltevermögen und der Glaube an sich selbst.

Das Unheil hat viele Gesichter

Für das Unheil ist man meist Zufallsopfer

Manchmal stelle ich es mir als eine dürre, braungewandete Gestalt mit glühenden Augen vor, die gekrümmt, mit hasserfülltem Blick durch eine Fußgängerzone schleicht und wahllos jemandem auf die Schulter tippt, der gerade fröhlich lachend im Straßencafe sitzt und mit seinen Freunden scherzt. „Jetzt bist DU dran“, flüstert sie dann heiser. „Dir ist es lange genug gut gegangen. Ab mit dir in das schwarze Loch.“

Aber jetzt die gute Nachricht: Im Normalfall dauert kein Leid ewig. Und die Zeit heilt tatsächlich viele Wunden. Nicht alle, aber viele. Und wenn sie die Wunden nicht heilt, dann sorgt sie zumindest dafür, dass Schorf darüber wächst, so dass man sich nicht mehr fühlt, als bestünde die Seele aus rohem Fleisch in einer mit Salz gefüllten Schale. Man muss einfach durchhalten.
Und – in ganz seltenen Fällen – steht tatsächlich jemand vor unserer Tür, der uns an die Hand nimmt und uns hilft. Das nennt man dann „Glück“.

Ich habe schon sehr viel erlebt, aber die allerwichtigste Erkenntnis aus diesen langen Jahren, die an vielen Tagen voller Schatten waren, ist: Jeder hat sein Päcklein zu tragen. Niemand ist ohne Schmerz, ohne Leid, ohne Kummer. Jeden erwischt es einmal. Und es liegt an uns, wie wir damit umgehen.

Zeit schenken – das ist kostbar heutzutage

Vielleicht sollten wir anderen zuhören, auf Zwischentöne achten und ihnen etwas Zeit schenken – es ist aller Wahrscheinlichkeit nach nämlich sehr gut möglich, dass irgendwann wir selbst jemanden brauchen, der uns mal zuhört.

Haben Sie sich nicht gelegentlich gefragt, warum seichte Hollywood-Produktionen solchen Zuspruch erfahren, ganz im Gegensatz zum guten alten deutschen Problemfilm? Weil wir die heile Welt dringend brauchen, auch wenn sie sich nur ein begabter Drehbuchschreiber ausgedacht hat. Weil wir glauben können MÜSSEN, dass Dinge wie Liebe und Zusammenhalt existieren, weil wir hoffen können MÜSSEN, dass irgendwann alles gut wird.

Ich persönlich liebe Familienserien und Serien über Freundschaft. Ich mag Sitcoms mit eingebauter Lachspur, denn alle Probleme der Welt (wenn sie denn überhaupt auftauchen) sind innerhalb von 20 Minuten gelöst, und das regelmäßig. Und ich weiß, dass es im wahren Leben anders zugeht, darum nehme ich mir ganz bewusst mit solchen Produktionen Urlaub im Kopf. Ich mag Filme mit Happy-End, Liebesgeschichten und Berichte über Menschen, die Gutes tun, denn mit Schlechtem werde ich täglich konfrontiert – da brauche ich nur ans Telefon zu gehen, wenn eine verzweifelte Seele anruft. Diese Welt quillt über vor Gram und Krankheiten, Mord und Totschlag, und indem ich den Fernseher einschalte, verschaffe ich mir einen kleinen Ausgleich.

Realitätsflucht? Das kann schon sein. Aber immer noch besser als Tabletten, Alkohol oder Drogen. Immer noch besser als sich mit sinnlosen Aktivitäten zu betäuben, seinen Aggressionen freien Lauf zu lassen oder uns im schlimmsten Falle etwas anzutun. Dann doch lieber fernsehen.

Probleme nimmt man immer mit – auch in den Urlaub

Oft höre ich auch: „Ich brauche nur mal wieder Urlaub. Zwei Wochen in der Dominikanischen Republik, und ich bin wie neu.“ Fehlanzeige. Die Sorgen fliegen nämlich – eingerollt in die Socken -mit und sind meistens das erste, das man versehentlich auspackt. Da kann ich auch zuhause bleiben und die Glotze einschalten.

Denn dem Kummer kann man nicht entrinnen, gleich, wie schnell man rennt. Man kann versuchen, ihn mit Branntwein zu betäuben, obwohl Freude und Angst Vergrößerungsgläser sind – Alkohol ist sogar ein Mikroskop. Es gibt auch keine Tabletten, die dauerhaft gegen das Leid wirken. Sie helfen einem nur dabei, es verschwommen wahrzunehmen. Verschwinden wird es deswegen nicht. Wir stehen täglich mit dem Leben – einem rücksichtslosen, gemeinen Gegner – im Ring. Und machen wir uns nichts vor: Es wird irgendwann einen gewaltigen linken Haken landen, der uns umwirft. Man kann ihn nicht ewig ausweichen.

Kummer ist nämlich wie ein Maßanzug vom Edel-Schneider – vom Schicksal speziell für jedes Individuum angefertigt. Er legt sich über einen wie eine zweite Haut, fesselt einem die Hände mit Drähten an die Hüfte und färbt die Tage braungrau. Er bringt einen zum Weinen, versetzt einen in Angststarre oder zwingt einen zu hektischer Aktivität, sozialem Rückzug oder irrationalem Verhalten.

Jeder von Ihnen hatte vermutlich schon Leid zu ertragen. Und ich kann Sie heute an dieser Stelle nur bitten: Teilen Sie sich mit. Reden Sie. Werden Sie „lästig“. Sie müssen nicht stolz sein, Sie müssen nicht alles allein aushalten. Sie dürfen unbequem sein, denn immerhin geht es um Ihr Leben. Teilen Sie sich mit. Suchen Sie sich Hilfe oder wenigstens jemanden, der Ihnen zuhört. Denn einer Tatsache sollten Sie sich bewusst sein: Sie sind nicht allein. Dieses Universum ist voller Stolperfallen. Aber es ist auch voller guter, anständiger Menschen. Und manchmal schafft man es nicht, selbst wieder auf die Beine zu kommen.

Was mir meine geliebten Familienserien sind, ist bei Ihnen vielleicht das Tagebuch, eine Selbsthilfegruppe, ein guter Therapeut, ein Sozialarbeiter, ein Forum anderer Betroffener im Netz, ein Wahrsager, der liebe Gott, oder ein guter Freund, der Ihnen die Hand reicht, auch wenn Sie vom Leid zu erschöpft sind, um sie hilfesuchend auszustrecken.

Lassen Sie sich selbst nicht allein. Haben Sie sich bitte lieb genug, auf sich zu achten, sich nicht aufzugeben. Sie werden es sich danken. Irgendwann.

Licht zur Selbsthilfe brennt in uns

Denn gleich, wie dunkel, tief und schwarz das Loch auch sein mag, in das man stürzt, es gibt immer einen Ausweg, eine Leiter und ein Licht, das Ihnen leuchtet in finsterster Nacht.
Manchmal müssen Sie das allerdings selbst sein. Wir alle tragen dieses Licht in uns.

Neulich las ich bei Facebook folgenden Satz: „Manchmal kann man gar nichts machen, außer weiter.“

„Ich wollte ja nicht sterben, ich wusste nur nicht, wie ich es schaffen sollte, weiter zu leben, weil alles so aussichtslos schien“, sagte einmal jemand zu mir, der in letzter Sekunde nach einem Selbstmordversuch gerettet worden war. Und genau darum geht es. Nachdem Sie auf die Bretter gegangen sind, bleiben Sie nicht liegen, bis der Ringrichter Sie ausgezählt hat, wenn Ihnen in diesem Boxring, den wir „Leben“ nennen, ein brutaler Schwinger verpasst wurde. Ziehen Sie sich benommen an den Seilen hoch, richten Sie sich auf, und taumeln Sie schwankend in nächste Runde. Denn nach „Aus durch K.O.“ kommt nichts mehr.

Irgendwo ist immer ein Seil, das uns beim Aufrichten hilft. Wir müssen es nur erkennen.

Bildnachweis: pixabay.com, quinntheislander

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