Samstag, 20. April, 2024

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Neu ist nicht immer besser – Kolumne von Barbara Edelmann

Als Kind saß ich oft mit meiner Großmutter im Licht der untergehenden Abendsonne am Fenster und beobachtete, wie sie Socken stopfte, Knöpfe an Hemden nähte, Löcher in getragener Kleidung ausbesserte und Schnürsenkel-Enden mit Wachs überzog, damit sie sich wieder einfädeln ließen.

Ja, ich stamme aus einer Zeit, in der Dinge „geflickt“ wurden. Wenn etwas kaputt war, warf man es nicht weg, denn meistens waren mit dem Erwerb viele Entbehrungen verbunden gewesen.

Dann kam der Konsum. Die Leute verdienten mehr, die Ansprüche wurden größer, und was früher eine Woche Zelturlaub am Gardasee gewesen war, sind heute vier Wochen Bali all inclusive mit dem Billig-Flieger.

Das Angebot an Waren ist riesig. Viele Gebrauchsgüter sind, proportional zum Einkommen gesehen, so billig geworden, dass es sich nicht mehr lohnt, sie zu reparieren. Und merkwürdigerweise gilt das auch für Beziehungen.

Verstehen Sie mich richtig: Ich propagiere nicht, in einer unbefriedigenden Ehe auszuharren. Ich appelliere nur an Ihren wachen Verstand, genau zu prüfen, welche Definition von „besser“ Sie haben. Weil „Ex und Hopp“ nicht immer die bessere Wahl ist. Ganz einfach.

Viel hat sich verändert seit damals. Kein Mensch stopft heute mehr Socken. Aber die Socken sind nur ein Gleichnis, denn dieses achtlose Wegwerfen, es gehört mittlerweile zu unserer „schönen neuen Welt“.

Früher zappten wir uns gelangweilt durch die Privatsender, heute zappen wir uns durch Beziehungen. Tinder, Facebook, Snapchat, Instagram und wie sie alle heißen, sind voll mit einsamen Herzen auf der Suche nach dem Partner fürs Leben.

Der/die Nächste muss perfekt sein. Kompromisse sind nämlich out.

„Ich will einen 1,85 Meter großen Blonden mit grünen Augen, der Sozialwissenschaften oder Arabistik studiert hat, einen Fiat fährt, Katzen liebt und für den ‚How I Met Your Mother’ das Beste seit der Erfindung des Klopapiers ist.“

So in etwa läuft das heute. Ich habe leicht übertrieben, aber leider nicht viel.

„Was, du magst weder Sushi noch Ayurveda und findest Angela Merkel doof? Dann aber fix wieder runter vom Hof!“ heißt es mittlerweile. OK. Ich habe wieder übertrieben, aber wieder nicht viel.

Perfekt soll er sein, der Partner. Schnell tauscht man den „Alten“ aus, es warten doch genügend Neue. Aber Herzen sind keine Kurbelwellen, wissen Sie. Neues muss nicht unbedingt besser sein. Oder wie es Schiller schon ausdrückte: „Der Wahn ist kurz, die Reu’ ist lang.“

Es heißt ja nicht umsonst: „Drum prüfe, wer sich ewig bindet.“ Der Satz endet übrigens NICHT mit „… ob sich nicht doch was Besseres findet.“

Beziehungen werden mittlerweile weggeworfen wie Tennissocken mit Löchern. Meine Oma hätte sie noch gestopft.

Und genau darum erzähle ich Ihnen heute die wahre Geschichte von Susi. Sie war Zeit ihres Lebens ein großer Fan von Neuanschaffungen und hasste Reparaturen. Susi kauft lieber neu. Das gilt für alles. Einmal warf sie eine Bluse in die Altkleidersammlung, weil zwei Knöpfe fehlten. Und das ist die reine Wahrheit.

Susi und ich waren seit unserer Schulzeit beste Freundinnen.

Sie wuchs als Einzelkind bei wohlhabenden Eltern auf. Von klein auf glich Susis Leben dem Spaziergang von Alice im Wunderland. Fuhr Susi wieder mal einen Wagen zu Klump, kaufte Papi ihr einfach einen neuen.

Egal, welchen Wunsch sie äußerte, er wurde umgehend erfüllt. Jedes Mal, wenn ich Susi in ihrem Elternhaus besuchte, war das für mich wie Science-Fiction. Sie bewohnte schon als Teenager die komplette obere Etage des elterlichen Hauses und hatte dort freie Hand. Es war ein Paradies für uns. Mit Zimmerservice, denn Susi brauchte nur übers Haustelefon unten anzurufen, und schon bekamen wir die leckersten Dinge serviert.

Susi heiratete sehr jung, bekam zwei Kinder, und zog, nachdem diese Ehe gescheitert war, mit ihren beiden Kindern wieder im Obergeschoß ihres Elternhauses ein.

Die Großeltern kümmerten sich rührend um ihre beiden Enkel, während Susi morgens zur Arbeit fuhr und erst abends nach Hause kam.

Dann hauchte sie nach dem Essen, das die Oma gekocht hatte, ihren Kindern einen Kuss auf die Stirn, befahl ihnen, zu schlafen, schminkte sich und verschwand auf hohen Hacken in die Nacht.

Es folgte im Laufe der nächsten 10 Jahre eine stattliche Anzahl an willigen Herren, die zwar gerne Susi, aber nicht ihre beiden Kinder genommen hätten.

Da niemand sie mit ihren Kindern wollte, sondern nur als Einzelpack, blieb Susi weiterhin Single und alleinerziehend. So nannte sie sich gern in heiterer Runde. Dabei kannte ich niemanden, auf den diese Bezeichnung weniger zugetroffen hätte, aber keiner getraute sich, ihr das zu sagen, auch ich nicht.

Susi lebte in der 5-Sterne-Version des „Hotel Mama“, weiterhin mit Roomservice und Putzfrau.

Endlich lernte Susi Hugo kennen, einen farblosen, schlanken Mann mit zurückweichendem Haaransatz, stillem Wesen und großen, ein wenig traurig dreinblickenden Augen.

Er zierte sich etwas, und das war Susi nicht gewöhnt. Normalerweise fuhr sie auf große dunkelhaarige Männer mit hohen Wangenknochen und blauen Augen ab, und Hugo fiel überhaupt nicht unter ihr Beuteschema. Aber es reizte Susi, dass mal jemand nicht so wollte wie sie es gerne hatte.

Hugo redete wenig und lächelte selten. Aber er war belesen, einfühlsam und hatte eine Menge Tiefgang. Ich mochte ihn.

Susi ließ ein T-Shirt mit einem Foto von ihr in äußerst aufreizender Pose und extrem wenig Textilien am Leib bedrucken und schmuggelte es unter seine Klamotten, als Hugo für ein paar Wochen verreiste. Sie legte sich ein Arsenal an Reizwäsche zu, auf das vermutlich eine Sexarbeiterin auf der Reeperbahn neidisch gewesen wäre. Susi wollte Hugo, und sie sorgte dafür, dass sie ihn bekam. Etwas anderes hätte ihre Programmierung durcheinandergebracht.

Endlich machte Hugo Susi einen Antrag.

Er war übrigens Gastronom, bewohnte ein schönes geräumiges Haus auf dem Lande und schien mit beiden Beinen fest auf dem Boden zu stehen. So jemand hatte ich mir für sie gewünscht.

Nach einer rauschenden Hochzeit zog Susi mit den Kindern in ihr neues Zuhause. Susis Eltern hatten endlich wieder ein Privatleben, wenn auch nicht für lange. Ich hätte es ihnen gegönnt, aber leider starben sie bald darauf.

Susi verwand diese Schicksalsschläge erstaunlich schnell, vielleicht, weil Hugo wie zuvor ihre Eltern, ihr jeden Wunsch von den Augen ablas.

Arbeiten musste Susi übrigens nicht, denn Hugos Einkommen war ausreichend.

Außerdem kümmerte er sich aufopfernd um seine neue Familie. Er wusch die Wäsche, kochte das Essen, kaufte ein und machte sauber, denn Susi hatte öfter mal keine Lust und beschwerte sich oft darüber, dass die Kinder so anstrengend waren. Nach dem Tode ihrer Eltern war Erziehung Neuland für sie, denn unter Tags hatte sie ihre Sprösslinge vorher so gut wie nie zu Gesicht bekommen, und wenn, dann waren sie schon von Oma und Opa versorgt worden.

Im Grunde genommen war sie nun das erste Mal richtig Mutter geworden. Trotzdem ihr Leben gut lief, schien Susi aber irgendwie unzufrieden.

„Mir ist langweilig“ sagte sie mehr als einmal, wenn ich sie besuchte. Wir saßen dann zusammen am Tisch, die Kinder spielten, und Hugo stand am Herd und kochte fürs Abendessen vor, nachdem er vorher eingekauft hatte.

„Hier ist überhaupt nichts los auf dem Land“ murrte Susi. „Ich gehe noch ein. Ich will hier raus.“

Ich  musterte sie damals ungläubig, denn meiner Meinung nach hatte sie es gut getroffen. Das Haus war hell und geräumig, die paar Pfund, die sie zugenommen hatte, standen ihr ausnehmend gut, und sie wirkte wesentlich ausgeglichener als früher, wo es sie jeden Abend auf die Piste getrieben hatte.

„Die Kinder machen mich wahnsinnig“ stöhnte sie oft. „Nirgendwo kann man hin. Ich habe ja niemanden, der auf sie aufpasst. Es ist die Hölle.“

Diese Anspielung überhörte ich regelmäßig geflissentlich, denn die beiden Kinder von Susi, damals 16 und 14, waren Rabauken, die mich mental überfordert hätten.

Nachdem die liebevolle Strenge von Susis Eltern fehlte und Susi eine gewisse Nachlässigkeit bezüglich der Erziehung an den Tag legte, wuchsen sie auf wie wilde Blumen. Sie breiteten sich quasi in alle Richtungen, auch in verbotene, aus, denn Susi hatte auf Konsequenz keine Lust, das hätte sie angestrengt.

Dann verletzte sich Susi den Rücken. Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie es passierte, aber beim Putzen kann es nicht gewesen sein, das erledigte Hugo, wenn er nicht im Lokal oder auf dem Großmarkt war. Jedenfalls wurde sie von ihrem Arzt nach einem Bandscheibenvorfall zur Kur geschickt.

„Ich habe mich verknallt“ berichtete sie mir freudestrahlend, als wir uns das erste Mal nach ihrer Reha wieder trafen. „Das ist die Liebe meines Lebens. Er ist ein Geschäftsmann aus Hamburg, er sieht klasse aus. Groß, dunkelhaarig, blaue Augen. Wir haben es die ganze Zeit getrieben. Den heirate ich.“

„Aber du bist doch schon verheiratet?“ wandte ich ein.

„Na und? Ich lasse mich eben scheiden.“ Da war sie wieder, meine Prinzessin auf der Erbse. Susi hatte noch nie viel dafür übrig gehabt, Kaputtes zu reparieren. Sie kaufte lieber gleich neu. Und Hugo war diese Bluse, an der zwei Knöpfe fehlten. Rein metaphorisch gesehen.

Meine Prinzessin Susi – sie hatte mir gefehlt. Die Frau, die damit aufgewachsen war, immer zu bekommen, was sie wollte. Die nie eine Mahlzeit zweimal aß, sondern die Reste in den Abfall kippte. Hugo kaufte ja stets frisch ein und kochte einfach neu.

Wissen sie, irgendwann flutscht man wieder in seine natürliche Form zurück. Und Susi war soeben geflutscht. Erst unter den Hamburger Geschäftsmann, dann in ihre Rolle als verwöhnte Tochter. Ich hätte mir um sie wohl keine Sorgen machen brauchen. Sie blieb sich selbst treu.

„Susi“ versuchte ich zu intervenieren, weil ich Hugo mochte und den Eindruck hatte, dass er meiner Freundin guttat.

„Ich war auf deiner Hochzeit. Vor dem Altar hast du geschworen, ‚bis dass der Tod euch scheide’, und jetzt kommt die erste leichte Brise, und du willst dich vom Acker machen? Was ist mit den Kindern? Die lieben ihn doch auch.“

„Ach, Kinder halten viel aus“ wehrte Susi ab. „Verschon mich mit deinen Predigten. Du klingst wie ein Pfarrer.“

Die nächsten Monate wurden zur Zerreißprobe für unsere Freundschaft. Ich hatte Susi nochmals gebeten, die Angelegenheit gründlich zu überdenken, aber sie wollte in dieser Zeit nicht auf ihren „Fredi Schlotterbeck“, wie ich ihn aus purer Bosheit taufte, verzichten. Deshalb nutzte sie jede Gelegenheit, sich mit ihm zu treffen, während Hugo daheim die Kinder hütete. Einige Male musste er sogar sein Lokal deswegen geschlossen halten.

Ich konnte das Elend nicht mehr mit ansehen und rief Fredi Schlotterbeck an, um ihn auszuhorchen. Susi hatte mir seine Nummer gegeben.

„Was willst du von meiner Freundin?“ fragte ich ihn misstrauisch. „Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Hast du überhaupt gute Absichten? Susi ist zu schade für eine Affäre.“

„Diese Frau ist eine Wucht“ erklärte mir Fredi Schlotterbeck am Telefon überheblich. „Ich heirate die, auch wenn sie zehn Kinder hat.“

„Warst du schon mal verheiratet?“ fragte ich vorsichtig?“

„Nur kurz“ antwortete Fredi. „Aber ich liebe Susi. Und ich nehm sie auf jeden Fall.“

Susi lachte mich aus, als ich ihr von diesem Gespräch erzählte und führte stolz ihre neue Pelzjacke vor, die Fredi ihr bei einem Stadtbummel gekauft hatte.

„Ich und die Kinder fahren am Wochenende zu Fredi nach Hamburg und verbringen dort das Wochenende“ erklärte sie mir entschlossen. „Ich habe mit Hugo geredet und ihm alles gesagt. Wir lassen uns scheiden.“

Susi fuhr also mit Kind und Kegel nach Hamburg und verbrachte zusammen mit ihrem Nachwuchs das Wochenende bei ihrem Zukünftigen in dessen Villa. Dann reiste sie wieder zurück, um mit Hugo die Modalitäten wegen der Scheidung zu klären.

Hugo war so still wie immer. Er wirkte bedrückt, aber gelassen. „Ich liebe Susi“ sagte er zu mir. „Weil sie so ehrlich zu mir ist. Es bricht mir das Herz, aber was soll ich tun?“

Nach diesem Wochenende wartete Susi ungeduldig darauf, dass Fredi sich melden würde, um ihr mitzuteilen, wann der Umzugswagen käme.

Er kam nie. Fredi rührte sich nämlich nach diesem einen Wochenende nicht mehr. Es war, als wäre er gestorben. Er ging nicht ans Telefon, änderte seine Handynummer und öffnete nicht die Tür, als Susi nach einer 8 Stunden langen Autofahrt vor seiner Villa stand.

Fredi hatte sehr wahrscheinlich seine pädagogischen Fähigkeiten, was zwei Teenager betrifft, gewaltig überschätzt, genau wie die Geduld seiner Putzfrau, denn ich erinnere Sie daran: Susis Kinder waren Rabauken mit hoher destruktiver Energie.

Es ging um eine chinesische Vase, ein italienisches Sofa und eine Kaffeemaschine aus der Schweiz. Mehr weiß ich nicht. Aber ich habe die Kinder schon live erlebt und hätte Fredi alles geglaubt.

Nach einer Woche war Susi verzweifelt. Sie saß nur noch zuhause und heulte. Hugo tröstete sie.

Irgendwann hatte sogar Susi eingesehen, dass Fredi sich nicht mehr melden würde. Sie war nicht daran gewöhnt, dass ihr Wünsche verwehrt blieben und dementsprechend erschüttert. Es war ihr erstes Mal. Nun war sie also keine Jungfrau mehr. Rein lebenstechnisch gesehen.

Nach einem Jahr schien es, als wäre die ganze Geschichte nie passiert.

Und dann verliebte sich Susi wieder. Diesmal in einer Kneipe, die sie zusammen mit ein paar Arbeitskollegen besuchte. Dort lernte sie Ralf kennen. Er stand kurz vor seinem Vorruhestand – wegen einer Erkrankung – und war 12 Jahre älter als Susi, schlank, grauhaarig, mit hohen Wangenknochen und blauen Augen.

„So was ist mir noch nie passiert“ strahlte Susi. „So verliebt war ich nicht nie.“

„Das hast du bei Fredi Schlotterbeck auch gesagt“ erinnerte ich sie und dachte mit Grauen an Hugo, der nichtsahnend gerade die Wäsche faltete.

„Dieses Mal ist es anders“ fauchte Susi. „Den Mann will ich. Er mich auch. Mit den Kindern kommt er klar. Ich lasse mir von dir gar nix dreinreden.“

Ein paar Tage später stellte sie mir Ralf vor. Er wirkte unterkühlt, etwas tranig, aber höflich und kultiviert. Ich mochte ihn trotzdem nicht, weil ich an Hugo denken musste. „Und wie hat Hugo es aufgenommen?“  fragte ich Susi, als Ralf gerade auf der Toilette war.

„Nicht so gut“ antwortete Susi lapidar. „Aber mit uns ist es die letzte Zeit eh nicht toll gelaufen. Der trinkt ab und zu mehr, als ihm guttut. Und  er ist auch so langweilig. Gar nix los. Als ich den kennenlernte, war der ständig auf Achse. Jetzt ist er nur müde, wenn er heimkommt. Auch sonst läuft nicht viel. Du weißt, was ich meine. Unsere Beziehung ist ziemlich abgekühlt.“

Wer hätte das gedacht?

Allmählich hatte ich ein Déjà-vu. Es klang einfach alles zu sehr nach Fredi Schlotterbeck.

Aber Ralf verschwand nicht einfach aus Susis Leben wie Fredi, er mietete sogar ein hübsches kleines Haus, das Susi zusammen mit ihm und den Kindern bezog. Sie suchte sich einen Job und kam wieder abends müde nach Hause. Ralf erledigte den Haushalt, so wie Susi das gewöhnt war, und die Kinder kamen und gingen ohnehin, wie es ihnen beliebte, denn Susi hielt nach wie vor nichts von Konsequenz oder Verboten.

Nach ungefähr einem Jahr traf ich Ralf in der Stadt allein beim Einkaufen. Normalerweise sahen wir uns nur, wenn Susi dabei war.

Er wartete erst gar nicht ab, bis ich ihn fragte, wie es ihm ginge, sondern legte sofort los.

„Die drei tun absolut nichts zuhause!“ schimpfte er. „Ich muss alles allein machen. Sie kochen und lassen dann das angebrannte Geschirr stehen. Im Bad schimmeln die Handtücher. Ich bezahle Miete, Strom, Telefon und den größten Teil des Essens und muss noch den Haushalt schmeißen!“

Ich hätte Ralf aufklären können, dass er damit einer langjährigen Tradition folgte, aber er hätte mich wohl nicht verstanden.

„Der ist so ein Erbsenzähler und Kleinkrämer“ klagte Susi auf meine Nachfrage hin. „Ständig soll man nur putzen. Immer hockt der vor der Glotze. Ich will raus, ich will was erleben. Mal irgendwo hingehen. Aber der Ralf, der ist ständig zu müde.“

„Wer hätte das ahnen können bei jemandem, der wegen Krankheit in den Vorruhestand geht?“ sagte ich. „Hast du doch vorher gewusst. Oder dachtest du, nach eurem Zusammenziehen findet eine Spontanheilung statt? Und warum helft ihr nicht mal im Haushalt mit, wenn er schon alles bezahlt? Er möchte doch nur wahrgenommen werden?“

„Mann, du solltest zu mir halten, du bist meine Freundin nicht seine!“ zischte Susi böse und rief mich erst mal einen Monat nicht mehr an.

Ich dachte mir nichts dabei, denn Susi hat eine kurze Zündschnur und ist nie lange beleidigt.

Susi und Ralf blieben in dem schmucken Reihenhaus aber tatsächlich noch ein weiteres Jahr zusammen. Sie hielt sich die meiste Zeit an irgendeinem Barhocker in der Stadt fest, und Ralf kaufte sich einen monströsen Fernseher, der nonstop mit voller Lautstärke lief, damit er mithören konnte, wenn er im anderen Zimmer die  Wäsche machte.

Einmal nötigte er mich bei einem meiner Besuche in die Küche. Seitdem kann ich Ihnen versichern, dass bestimmte gekochte Lebensmittel, wenn sie mehr als zwei Wochen der Luft ausgesetzt sind, ohne weiteres die Konsistenz von Trockenbeton anzunehmen imstande sind. Den Rest verdränge ich bis heute.

Aber irgendwann war Ralfs Geduld am Ende.

Als einigen Lebensmitteln im Kühlschrank wuchsen Haare, trotz Ralfs verzweifelter Versuche, Ordnung zu halten. Als merkwürdige kleine Tiere auftauchten, seine Scheckkarte aber hingegen verschwand, kündigte er kurzerhand den Mietvertrag und die Beziehung und suchte sich eine Wohnung.

Vermutlich wollte er in seinem Ruhestand auch etwas Ruhe haben, schätze ich, denn der Haushalt machte ihn fertig.

Ralfs indianischer Name hätte wahrscheinlich „Der-alles-zahlt“ gelautet. Sagen durfte er nichts, denn dann hatte er Susi und ihre Kinder als geschlossene Front gegen sich. Er hatte nie eine Chance gehabt und war erst durch Schaden klug geworden. Manche lernen nur durch Schmerz.

„Der macht tatsächlich Schluss mit mir!“ schrie Susi wütend ins Telefon. „Du musst mit ihm reden!“

„Ich glaube nicht, dass es helfen würde“ antwortete ich vorsichtig. „Weil ich schon merke, wenn man jemanden nicht umstimmen kann. Das schaffst du schon, auch ohne ihn.“

„Was soll ich denn jetzt machen?“ heulte Susi. „Ich kann die Miete für das Haus nicht zahlen, das hat immer er gemacht.“

Susi wäre nicht Susi gewesen, hätte sie sich nach einer günstigen Alternative für das Haus umgesehen. Irgendwie schien es, als hätte sie noch nicht registriert, dass zum ersten Mal in ihrem Leben niemand da war, der ihr etwas abnahm.

Sie fand einen Loft mitten in der Stadt, der genau 50 Euro billiger war als das Haus, in dem sie zusammen mit Ralf und ihren Kindern gewohnt hatte.

„Ich brauche etwas, in dem ich mich wohlfühle“ raunzte sie mich an, als ich sie auf die hohe Miete ansprach. „Ich bin ein Stadtmensch. Was soll ich auf dem Land, da ist doch nix los?!“

Natürlich setzte sie ihren Kopf durch und wir halfen alle beim Umzug. Ich kaufte ihr als Einweihungsgeschenk einen Schreibtisch, der ihr nicht gefiel (alles andere hätte mich gewundert).

Susi fand einen Job in der Nähe. Gelegentlich besuchte ich sie. Sicherheitshalber brachte ich mir Kaffee von McDonalds mit, denn alle im Haushalt, also Susi und ihre Kids, lebten recht organisch. Mehr als einmal blieb ich am Küchenboden kleben, aber nach so langer Freundschaft sieht man über Kleinigkeiten hinweg.

Sie tat mir irgendwie leid, denn sie hatte es jetzt schwer.

Zum ersten Mal in ihrem Leben, mit 45 Jahren, war sie ganz allein für sich verantwortlich. Und für ihre beiden Kinder, die bei ihr lebten. Nach der Arbeit kam sie nach Hause, und niemand hatte eingekauft. Vor der Waschmaschine türmten sich Klamottengebirge, in der Spüle lag das schmutzige Geschirr.

Alles kostete Geld, musste Susi erstaunt feststellen. Strom, Miete, Essen und Trinken, das Auto, Benzin, Steuern, Versicherung, Kleidung.

Schon ein halbes Jahr, nachdem sie in ihre neue Wohnung gezogen war, bat sie mich zu sich. „Du hattest recht“ sagte sie kleinlaut,  als wir auf dem Sofa saßen. „Ich hätte nie von Hugo weggehen sollen. Fredi hat nix getaugt, der hat mich im Stich gelassen, dieser blöde Kerl. Und Ralf ist ein riesiger Egoist, der nur auf sich selbst schaut. Ich hätte auf dich hören sollen. Würdest du mal mit Hugo reden, ob er mich wieder zurücknimmt?“

„Es wäre schön, wenn du das selbst tun könntest“ antwortete ich.

„Ich gebe dir eine 50%ige Chance, denn Hugo hat dich wirklich sehr geliebt. Vielleicht nimmt er dich wieder. Aber ich möchte mich lieber nicht einmischen. Außerdem hilft es vielleicht, wenn du heulst, da bin ich nicht so gut drin.“

Susi ging also zu Hugo und beichtete ihm tränenreich, dass sie ihn vermisste. Dass sowohl Fredi als auch Ralf riesige Fehler gewesen waren. Dass sie einfach nur zurück haben wollte. Dass sie mittlerweile wisse, wie toll es mit ihm gewesen war. Mit jemandem, der alles für sie getan und sie so geliebt hatte.

„Ich kann es mir eigentlich nicht mehr vorstellen“ sagte Hugo und sah Susi ruhig an. „Wenn du Geld brauchst, kann ich dich als Teilzeit-Bedienung anstellen. Aber mehr kann ich dir leider nicht mehr anbieten. Du hast mir nämlich das Herz gebrochen.“

Kennen Sie diese Quizsendungen, in denen man die Wahl zwischen einer Waschmaschine oder einem toll verpackten Geschenk hat, von dem man nicht weiß, was es enthält? Es könnte ein Goldbarren drin sein oder eine Rolle Küchentücher?

Susi ist der Typ, der immer das super verpackte Geschenk wählen würde. Und wenn dann ein Päckchen Kaugummi drin liegt, ist sie enttäuscht und möchte doch die Waschmaschine haben.

Was Susi heute macht? Nun, sie ist etwas älter geworden. Aber die Kinder leben heute noch bei ihr. Sie wählen nämlich auch immer die toll eingepackten Geschenke, in denen aber meist nur eine Tafel Schokolade liegt, die zwar im ersten Moment gut schmeckt, aber kurz darauf verschwunden ist.

Der Haushalt funktioniert irgendwie. Meistens. Ab und an übernachtet ein „Geschenk“ in der Wohnung und verschwindet als zerknittertes Einwickelpapier.

Hugo hat wieder geheiratet und ist noch einmal Vater geworden. Er hat ein wenig zugenommen, und sein Restaurant läuft gut. Ralf lebt seit der Geschichte mit Susi allein und möchte sich nie mehr auf eine Frau einlassen.

Und Fredi, der Hamburger Geschäftsmann? Von dem haben wir nie wieder etwas gehört.

Das war Susis Geschichte. Und irgendwie hört sie an dieser Stelle auf, weil es manchmal kein gutes Ende gibt. Bunt bedrucktes Papier und glitzernde Schleifen sind eben nicht alles.

Susi würde heute garantiert die Waschmaschine nehmen. Wenn sie noch eine Chance bekäme. Darum denke ich: manchmal muss man eben zwei Mal hinsehen. Manchmal muss man nachdenken, denn jede Beziehung lebt davon, dass man auch einmal nachgibt.

Die Amerikaner haben da ein hübsches Lied: „You have to give a litte, take a little, let your heart break a little…“- „Du musst etwas nehmen, etwas geben, und vielleicht dein Herz ein wenig brechen lassen.“

Umsonst ist der Tod. Es kostet immer etwas. Und niemand bekommt alles, was er möchte. Auch Waschmaschinen gehen kaputt. Aber man kann sie reparieren.

Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende und eine schöne Woche!

Herzlichst,

Ihre Barbara Edelmann

Bildnachweis: pexels.com

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